Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
ausreichend.
»In welcher Angelegenheit, Alvise?«
»Er hat einen Toten gefunden, Commissario.«
»Wer?«
»Er hat nicht gesagt, wie er heißt, Commissario, nur, daß er von Murano aus anruft.«
»Hat er den Namen des Toten genannt?« Allmählich wich Brunettis Müdigkeit, oder vielmehr er verscheuchte sie, um sich für die Geduldsprobe zu wappnen, vor die einen jeder Kontakt mit Alvise stellte.
»Nein, Commissario.«
»Hat der Anrufer gesagt, wo er ist?«
»An seinem Arbeitsplatz, Commissario.«
»Und wo arbeitet er, Alvise?«
»In einer fornace, Commissario.«
»Welche?«
»Ich glaube, er sagte De Cal. Aber ich hatte keinen Stift zur Hand. Auf jeden Fall ist es eine Glasbläserei auf Sacca Serenella.«
Brunetti schlug die Decken zurück und setzte sich auf. Dann stieg er aus dem Bett und sah zu Paola hinüber, die ihn mit nur einem offenen Auge anblinzelte. »Ich bin in zwanzig Minuten am Ende der calle«, sagte Brunetti in den Hörer. »Schicken Sie mir ein Boot.« Bevor Alvise erklären konnte, warum das um die Zeit schwierig werden würde, schnitt Brunetti ihm das Wort ab. »Wenn wir keins in Bereitschaft haben, wenden Sie sich an die Carabinieri, und falls da auch nichts läuft, rufen Sie mir ein Taxi.« Damit legte er auf.
»Ein Toter?« fragte Paola.
»Auf Murano.« Brunetti trat ans Fenster und prüfte mit einem Blick in den nachtdunklen Himmel die Aussichten für den neuen Tag.
Als er sich Paola zuwandte und sah, daß sie die Augen geschlossen hatte, glaubte er schon, sie sei noch einmal eingeschlafen. Doch bevor seine Enttäuschung spürbar wurde, schlug sie die Augen wieder auf und sagte: »Gott, was für einen schrecklichen Beruf du doch hast, Guido.«
Ohne auf ihre Bemerkung einzugehen, verschwand Brunetti im Bad.
Als er, rasiert und geduscht, wieder herauskam, war das Bett leer; dafür stieg ihm frischer Kaffeeduft in die Nase. Beim Ankleiden wählte er bewußt festes Schuhwerk für den Fall, daß er sich länger in der Schmelzwerkstatt würde aufhalten müssen. Dann ging er in die Küche, wo Paola vor einem Täßchen schwarzen Kaffees saß; ihm hatte sie einen großen Milchkaffee hingestellt.
»Zucker ist schon drin«, sagte sie, als er nach der Dose griff. Prüfend betrachtete er die Frau, mit der er seit über zwanzig Jahren verheiratet war: Irgend etwas stimmte nicht mit ihr, aber er kam nicht dahinter, was es war. Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen und lächelte ihn fragend an. »Was hast du denn?«
Da sie wußte, daß es einen Toten gegeben hatte, hätte sich die Frage eigentlich erübrigt, und Brunetti war auch viel zu sehr damit beschäftigt herauszufinden, was an ihr anders war als sonst. Endlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. »Du liest ja gar nicht!« Und wirklich hatte sie weder Buch noch Zeitung vor sich, sondern saß einfach nur da, nippte an ihrer Tasse und, ja, sie schien auf ihn zu warten.
»Wenn du weg bist, mache ich mir noch einen Kaffee, gehe zurück ins Bett und lese, bis die Kinder auf sind«, sagte sie.
Brunettis Welt war wieder in Ordnung. Er trank seinen Kaffee aus und küßte Paola zum Abschied. Wann er nach Hause käme, sei noch nicht abzusehen, meinte er, versprach aber anzurufen, sobald er mehr wisse.
In der calle, die zum Kanal hinunterführte, war es so still, daß das Boot noch nicht eingetroffen sein konnte. Wäre die Order an jemand anderen als Alvise ergangen, dann hätte Brunetti nur eine kleine Verspätung vermutet; so aber rechnete er damit, womöglich selbst ein Wassertaxi organisieren zu müssen. Unter diesen Gedanken erreichte er das Ufer und wandte sich nach rechts. Und sah, was er bisher nur auf Fotografien vom Beginn des vergangenen Jahrhunderts gesehen hatte: einen spiegelglatten Canal Grande. Nicht die kleinste Welle kräuselte die Wasseroberfläche, es waren keine Boote unterwegs, kein Wind regte sich, ja nicht einmal eine Möwe paddelte in den Fluten. Brunetti stand wie angewurzelt und bestaunte eine Szenerie, die der Zeit seiner Vorfahren angehörte: das gleiche Licht, die gleichen Fassaden, der gleiche Blumenschmuck vor den Fenstern, die gleiche beredte Stille. Und das alles, soweit er die Spiegelungen ausmachen konnte, noch dazu in doppelter Ausführung.
Doch dann hörte er das Tuckern eines Bordmotors, und gleich darauf umrundete das Polizeiboot die Biegung vor der Universität und hielt auf ihn zu. Im Näherkommen zerstörte es die Stille vor sich und hinterließ in seinem Kielwasser jene Vielzahl kleiner
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