Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
maestro hob warnend die Hand und bedeutete Brunetti mit wedelndem Finger zu schweigen. Dann zeigte er auf den Mann neben sich und unterstrich seine Mahnung durch mehrmaliges Kopfschütteln. Bevor Brunetti reagieren konnte, hatte der maestro seinen Schützling am Ärmel gefaßt und zog ihn sanft beiseite. Die beiden entfernten sich einen Meter oder zwei von Brunetti.
Der maestro kam gleich darauf allein zurück. »Stellen Sie ihm jetzt keine Fragen«, raunte er mit kaum hörbarer Stimme. »Er kann da auch nicht noch mal reingehen.«
Brunetti überlegte, ob es Schuldgefühle seien, die den Mann davon abhielten, an den Tatort zurückzukehren. Er spürte instinktiv, daß ehrliche Besorgnis und Mitleid den maestro bewogen, seinen Kollegen zu schützen.
Da Brunetti weiterhin schwieg, erneuerte der andere seinen Appell: »Glauben Sie mir, Commissario, es geht wirklich nicht. Das können Sie ihm nicht zumuten.«
Darauf gab Brunetti in, wie er hoffte, vernünftigem Ton zurück: »Ich werde ihn zu nichts zwingen. Doch ich brauche seine Aussage zu dem, was vorgefallen ist.«
»Aber ich sage Ihnen doch: Er schafft das nicht!« beteuerte der maestro.
Da ging Brunetti hinüber, streckte die Hand aus und berührte den Mann am Arm, um ihm so etwas wie Verständnis oder Mitgefühl zu vermitteln. Seine Worte richtete er jedoch weiter an den maestro, der gleichsam zum Dolmetscher seines Schützlings geworden war. »Ich muß wissen, was hier passiert ist. Und was es mit dem Toten auf sich hat.«
Auf den letzten Satz hin preßte der schweigsame Mann eine Hand vor den Mund, würgte heftig und sprang mit zwei Sätzen an Brunetti vorbei auf ein Rasenstück zu, wo er sich in qualvollem Brechreiz krümmte, aber nur dünnflüssige gelbe Galle hochbrachte. Sein Körper wurde von Krämpfen geschüttelt, bis er völlig entkräftet vornübersank und sich mit den Händen an den Knien abstützen mußte. Aber die nächste Brechattacke riß ihn dennoch um; mit hängendem Kopf und einer Hand am Boden sank er auf ein Knie nieder. Wieder würgte er pure Galle heraus.
Brunetti stand hilflos dabei, bis endlich der maestro einschritt und seinem Kollegen aufhalf. »Komm, Giuliano. Ich glaube, du gehst jetzt besser nach Hause. Na, komm schon.« Keiner der beiden schenkte Brunetti, der beiseite trat und sie vorbeiließ, auch nur die geringste Beachtung. Der Commissario sah ihnen nach, bis sie sich auf der Straße neben dem Kanal nach links wandten und in Richtung der Brücke verschwanden, die ins Innere der Insel führte. Es schien, als hätten die beiden einen Teil des Lichts mitgenommen, denn kaum daß sie fort waren, zogen Wolken auf und verdunkelten ein Stück weit den Tag.
Brunetti schaute sich um, aber es war niemand da. Auf dem Kanal hörte er ein Boot vorbeifahren; doch weil Ebbe war, sah er nur einen Männerkopf knapp oberhalb der Uferböschung vorübergleiten. Als der Mann ihn ebenfalls bemerkte und ihm mit seinem körperlosen Gesicht zulächelte, mußte Brunetti unwillkürlich an die Cheshire-Katze denken.
Er wartete eine Minute und noch eine, während das Tuckern des Bootes verhallte und durch kein anderes Geräusch ersetzt wurde. Endlich machte er kehrt und ging wieder auf die Schmelzwerkstatt zu. Das metallene Rolltor stand ein Stück weit offen; er schlüpfte hindurch und blieb kurz stehen, um seine Augen an das Halbdunkel im Innern zu gewöhnen.
Schon beim letzten Mal hatte er gesehen, wie schmutzig Fenster und Dachluken waren, aber am hellen Tag hatten die Lichtverhältnisse trotzdem zum Arbeiten ausgereicht. Doch jetzt am frühen Morgen, wo noch dazu dichte Wolken den Himmel verdunkelten, drang kaum ein Lichtstrahl herein. Brunetti wollte schon nach einem Schalter suchen, unterließ es aber angesichts der beiden geschlossenen Schmelzöfen aus Angst davor, was passieren mochte, wenn er den falschen erwischte. Er wußte, daß die Temperatur in den Öfen über Nacht stufenweise abgesenkt wurde, damit die Werkstücke, die in ihrem Innern dem gewünschten Härtegrad entgegenschlummerten, keinen Riß oder Sprung bekamen.
Der Lichtschein, der aus der aufgeklappten Tür des entlegensten Ofens drang, lockte Brunetti ein paar Schritte weiter vor. Die Helligkeit erreichte allerdings nur die unmittelbare Umgebung des Öfengehäuses; ansonsten blieb die weitläufige Halle schattenhaft und dämmrig.
Brunetti machte noch einen Schritt, und da erst bemerkte er den sonderbaren Geruch in der Luft: süßlich, mit einem stechend sauren Beigeschmack.
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