Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
Normalerweise hatte sie Grips genug, Politiker von Grund auf zu verachten, warum also sprang sie ausgerechnet für diesen in die Bresche? Kapriziös, wie ihre Vorurteile waren, lag es vielleicht nur daran, daß Fasano seinen Entschluß, in die Politik zu gehen, noch nicht offiziell bekanntgegeben hatte und Elettra bereit war, ihn bis dahin als Menschen zu behandeln.
Fasanos Namen und auch sein Gesicht kannte Brunetti seit Jahren aus dem Gazzettino. Er war groß, sportlich, fotogen, dem Vernehmen nach ein guter Redner und bei seinen Arbeitern beliebt. Von einer Abendgesellschaft, bei der er Fasano und seine Frau vor ein paar Jahren getroffen hatte, waren Brunetti ein umgänglicher, kultivierter Mann und eine attraktive Blondine im Gedächtnis geblieben, aber weiter reichte seine Erinnerung nicht. Gut möglich, daß er sich mit ihr über eine Inszenierung im Goldonitheater unterhalten hatte, oder vielleicht war es auch ein Film gewesen: Er hatte es schlichtweg vergessen.
Als er bei Ballarin auf einen Kaffee und eine Brioche einkehrte, versuchte Brunetti immer noch, sich auf irgend etwas zu besinnen, das Klatsch und Tratsch ihm mit den Jahren über Fasano zugetragen hatten. Er hatte die Brioche schon halb zum Mund geführt, als ihm die Erleuchtung kam: Der beste Weg, sich Informationen über den Mann zu beschaffen, war das direkte Gespräch mit ihm. Ein paar Sekunden stand er reglos, mit seitwärts geneigtem Kopf und hielt die Brioche in der Schwebe. Ein Gast drängte sich an ihm vorbei zur Theke, und Brunetti erhaschte einen flüchtigen Blick auf das eigene Spiegelbild. Hastig vertilgte er das Gebäck, trank seinen Kaffee aus, zahlte und machte sich auf den Weg zu den Fundamenta Nuove und der Linie 42.
Das betonierte Sträßchen vom ACTV-Anleger auf Sacca Serenella hinauf zu den Glaswerkstätten war Brunetti mittlerweile vertraut. Nur daß er sich diesmal, oben angekommen, nicht nach rechts, zur Fornace De Cal, wandte, sondern auf die benachbarte Werkstatt links davon zuschritt, von der er bislang kaum Notiz genommen hatte. Der wuchtige Backsteinbau hatte ein hohes Spitzdach mit einer Doppelreihe Oberlichter, und den Eingang markierte, wie bei den meisten fornaci, eine metallene Schiebetür.
Im Näherkommen erkannte der Commissario Raffaele Palazzi, der vor dem Tor stand und eine Zigarette rauchte. »Guten Morgen«, sagte Brunetti und hob grüßend die Hand. »Scheint schön zu werden, heute.«
Palazzi lächelte ganz freundlich zurück, ließ die Kippe fallen, trat sie aus und verscharrte sie mit der Fußspitze im Boden. »Alte Angewohnheit«, sagte er, als er Brunettis Blick auffing. »Ich habe früher in einer Chemiefabrik gearbeitet, und da mußten wir mit Zigaretten vorsichtig sein.«
»Wundert mich, daß Sie dort überhaupt rauchen durften.«
»Durften wir nicht.« Palazzi grinste. Und als er Brunetti verständnisvoll zurücklächeln sah, deutete er mit dem Kopf hinter sich, in Richtung der Brachfläche, die sich zwischen den Werkstätten bis zur Lagune hinzog, und fragte: »Seid ihr fündig geworden, da draußen?«
»Ergebnis steht noch aus«, antwortete Brunetti.
»Aber Sie rechnen damit, daß Sie was finden?«
Brunetti zuckte mit den Schultern. »Das ist Sache des Labors.«
»Nach was suchen Sie denn?«
»Keine Ahnung«, gestand Brunetti.
»Reine Neugier?« Palazzi holte seine Zigaretten heraus, klopfte zwei ein Stück weit aus der Schachtel und hielt Brunetti das Päckchen hin. Doch der schüttelte den Kopf.
Da er keine Antwort bekam, wiederholte Palazzi seine Frage: »Also sind Sie bloß neugierig?«
»Das bin ich immer.«
»Ist es wegen Tassini?« »Auch, ja.«
»Und weiter?«
»Weil gewisse Leute es nicht gern sehen, daß ich hierherkomme.«
»Und daß Sie Fragen stellen?«
Brunetti nickte. Palazzi steckte sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug, legte den Kopf in den Nacken und stieß eine ganze Reihe vollkommener Rauchringe aus, die langsam größer wurden, so groß wie Heiligenscheine, bevor sie sich in der weichen Morgenluft auflösten. »Tassini hat auch eine Menge Fragen gestellt«, sagte Palazzi.
»Worüber?« Die Sonne hatte an Kraft gewonnen, seit Brunetti von Bord gegangen war. Er knöpfte sein Jackett auf.
»Über alles«, antwortete Palazzi.
»Zum Beispiel?«
»Wer darüber Buch führte, welche Chemikalien geliefert und welche entsorgt wurden, und ob uns irgendwer aus den anderen Werkstätten bekannt sei, der Kinder mit ... mit Problemen habe.«
»Wie seine
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