Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
Übergriffs schuldig gemacht.«
»Es gibt einen richterlichen Beschluß«, sagte Marvilli.
»Von einem venezianischen Gericht?«
Nach langer Pause räumte Marvilli ein: »Das weiß ich nicht, Commissario. Aber ich weiß, daß ein Bescheid vorliegt. Ohne den hätten wir niemals einen solchen Einsatz gestartet - weder hier noch in den anderen Städten.«
Eine Beteuerung, der Brunetti Glauben schenkte. So weit, daß die Polizei ohne richterlichen Beschluß nach Belieben irgendwo eindringen konnte, waren sie hier denn doch noch nicht. Noch herrschten hier keine amerikanischen Zustände.
Als Brunetti wieder das Wort ergriff, verriet seine Stimme die Müdigkeit eines Mannes, der lange vor der gewohnten Zeit aus dem Schlaf gerissen und dessen Geduld seitdem auf eine schwere Probe gestellt wurde. »Wenn wir beide aufhören, den starken Mann zu markieren, Capitano, könnten wir jetzt vielleicht gemeinsam zur Questura gehen, und Sie erzählen mir unterwegs, was wirklich vorgefallen ist.« Er kramte einen 10-Euro-Schein hervor und legte ihn auf den Tresen, bevor er sich zum Ausgang wandte.
»Ihr Wechselgeld, Signore«, rief ihm der Barmann nach.
Brunetti winkte schmunzelnd ab. »Sie haben der Dottoressa das Leben gerettet, schon vergessen? Ich finde, das ist unbezahlbar.« Der Barmann bedankte sich lachend, und Brunetti und Vianello verließen die Cafeteria. Gefolgt von einem nachdenklichen Marvilli.
Als die drei Männer ins Freie traten, wo sie die Wärme des anbrechenden Tages empfing, fiel Brunetti auf, daß das Pflaster stellenweise feucht war. Er konnte sich nicht erinnern, ob es bei seiner Ankunft in der Klinik geregnet hatte, und von drinnen aus hatte er nicht darauf geachtet. Jetzt fiel kein Niederschlag mehr, doch die Luft roch wie rein gewaschen, und es versprach einer jener klaren Tage zu werden, die der Frühherbst der Stadt so gern bescherte, vielleicht um über das Ende des Sommers hinwegzutrösten. Es hätte Brunetti gereizt, zur Mündung des Kanals hinunterzuspazieren und nachzusehen, ob man jenseits der Lagune schon die Berge sehen konnte, aber weil so ein Umweg Marvilli höchstwahrscheinlich provoziert hätte, verzichtete er darauf. Bis zum Nachmittag würden Smog und steigende Luftfeuchtigkeit die Berge zwar wieder verhüllen, doch vielleicht hatte er ja morgen Glück.
Als sie den Campo Santi Giovanni e Paolo überquerten und Brunetti entdeckte, daß man das Colleoni-Denkmal endlich von dem Gerüst befreit hatte, hinter dem es vor Jahren verschwunden war, freute er sich über das Wiedersehen mit dem alten Schurken. Hinter der noch geschlossenen Konditorei Rosa Salva bog der Commissario, der den anderen inzwischen ein Stück voraus war, nach rechts in die Calle Bressana ein. Oben auf der Brücke machte er halt, damit Vianello und Marvilli aufschließen konnten. Doch der Inspektor blieb, Distanz wahrend, unten stehen, wo er sich an ein Mäuerchen lehnte. Brunetti ließ ihn gewähren und stützte sich auf das Brückengeländer. Marvilli, der jetzt neben ihm stand, aber in die andere Richtung schaute, sprach als erster. »Vor zwei Jahren erfuhren wir, daß eine Polin, die legal hier lebte, unverheiratet, mit einer Anstellung als Haushaltshilfe, in einer Klinik in Vicenza kurz vor der Entbindung stand. Ein paar Tage später verließ ein bislang kinderloses Ehepaar aus Mailand, beide Ende Dreißig, besagte Klinik mit dem Baby und einer Geburtsurkunde, die den Mailänder als Vater auswies. Er gab an, die Polin sei seine Geliebte und das Kind von ihm. Seine Aussage wurde von der Polin bestätigt.«
Marvilli stützte die Unterarme auf das flache Brückengeländer und ließ den Blick über die Palazzi am Ende des Kanals schweifen.
Dann fuhr er scheinbar nahtlos in seinem Bericht fort. »Der Schönheitsfehler an der Geschichte war, daß der Mann, also der angebliche Vater, zum Zeitpunkt der Zeugung beruflich in England weilte. Und die Polin mußte bereits bei ihrer Einreise nach Italien schwanger gewesen sein: Laut ihrer Arbeitserlaubnis kam sie sechs Monate vor der Geburt des Kindes ins Land. Der Mann, der sich für den Vater ausgab, war aber nie in Polen gewesen, und die Kindsmutter hatte ihr Heimatland nie zuvor verlassen.« Ehe Brunetti nachhaken konnte, beteuerte Marvilli: »Wir sind ganz sicher. Glauben Sie mir.« Er hielt inne und beobachtete Brunettis Mienenspiel. »Der Mailänder ist nicht der Vater.«
»Wie haben Sie das alles herausgefunden?« fragte Brunetti.
Marvilli blickte unverwandt aufs
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