Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
dachte ich ja, solange man's nicht liest, könne man dieses Revolverblatt ruhig kaufen. Als ob das Lesen eine Todsünde wäre, der Kauf aber nur eine läßliche.« Der Inspektor streifte Brunetti mit einem flüchtigen Blick und starrte gleich wieder auf die Schlagzeilen. »Mittlerweile glaube ich allerdings, es ist genau umgekehrt, und die Todsünde begeht jeder, der diesen Schund kauft, weil die Verleger ihn dann nämlich weiter drucken. Das Zeug zu lesen ist dagegen gar nicht so schlimm, weil es ohnehin null Wirkung hat.« Vianello erhob sein Glas und leerte es in einem Zug.
»Darüber solltest du mit Sergio reden«, sagte Brunetti, dem der Barbesitzer gerade seinen Pinot Grigio und die Tramezzini brachte. Dankbar nickte Brunetti ihm zu; momentan war er mehr daran interessiert, seinen Hunger zu stillen, als sich Vianellos Diffamierungen der Presse anzuhören.
»Worüber?« fragte Sergio.
»Darüber, wie gut der Wein ist«, entgegnete Vianello. »So gut, daß ich gleich noch einen trinken sollte.«
Der Inspektor legte die Zeitung beiseite. Brunetti griff nach einem Tramezzino und biß hinein. »Zu viel Mayonnaise«, bemängelte er, verschlang den Rest und spülte mit einem halben Glas Pinot Grigio nach.
»Und, was sagt die Ehefrau?« fragte Vianello, nachdem Sergio ihm den Wein gebracht hatte.
»Das Übliche. Alles, was mit der Adoption zusammenhing, hat sie ihrem Mann überlassen, und von illegalen Kontakten will sie nichts gewußt haben.« Brunetti referierte sachlich, aber mit skeptischem Unterton. »In den anderen Fällen wurden übrigens immer beide Adoptiveltern festgenommen. Ach, und diesen Mittelsmann haben sie offenbar noch nicht geschnappt.«
»Glaubst du, die Carabinieri werden uns ihre Vernehmungsprotokolle einsehen lassen?« fragte Vianello.
»Ha! Die wollten mir nicht mal die Namen der Leute geben, die ihnen bei ihrer Razzia ins Netz gegangen sind«, antwortete Brunetti. »Dazu mußte ich mich erst an Pelusso wenden.«
»Normalerweise sind die aber kooperativer.«
Da war Brunetti anderer Meinung. Zwar hatte auch er mit einzelnen Carabinieri gute Erfahrungen gemacht, aber die Truppe insgesamt zeigte seiner Ansicht nach wenig Bereitschaft, ihre Informationen oder gar ihre Erfolge mit anderen Polizeieinheiten zu teilen.
»Wie fandest du eigentlich diesen Zorro?« fragte Vianello.
»Zorro?« wiederholte Brunetti zerstreut, denn er konzentrierte sich gerade voll und ganz auf sein zweites Tramezzino.
»Na, der Typ mit den Cowboystiefeln.«
»Ach, der.« Brunetti trank seinen Wein aus, hielt Sergio das leere Glas hin und überdachte, während er auf Nachschub wartete, seinen Eindruck von Marvilli. »Für einen Hauptmann ist er noch reichlich jung, dürfte also kaum Erfahrung haben mit solchen Razzien. Seine Männer sind bei dem Einsatz entschieden zu weit gegangen, und das wird ein Nachspiel haben. Folglich bangt er um seine Karriere. Mit gutem Grund, schließlich war das Opfer ein angesehener Mediziner.«
»Ja, und seine Frau ist eine Marcolini«, ergänzte Vianello.
»Ja, seine Frau ist eine Marcolini.« Im Veneto konnte das weit mehr ins Gewicht fallen als der Beruf des Gatten.
»Aber was ist nun mit dem Capitano?« kam Vianello auf seine ursprüngliche Frage zurück.
»Wie gesagt, er ist noch jung, kann sich also so oder so entwickeln.«
»Soll heißen?«
»Soll heißen, er könnte ein guter Offizier werden: Seinen Untergebenen hat er ein bißchen hochfahrend behandelt, aber er war mit ihm im Krankenhaus und hat dafür gesorgt, daß der Junge ein paar Tage Urlaub bekam«, sagte Brunetti. »Und diese Stiefel gewöhnt er sich ja vielleicht irgendwann ab.«
»Oder?«
»Oder er wächst sich zu einem absoluten Ekel aus und macht allen Scherereien.« Sergio servierte ihm das zweite Glas Wein; Brunetti bedankte sich und nahm sein drittes Tramezzino in Angriff: Thunfisch mit Ei. »Wie ist denn dein Eindruck?«
»Ich glaube«, antwortete Vianello, ohne zu zögern, »der Mann ist in Ordnung.«
»Und wieso?«
»Weil er Sergio geholfen hat, das Gitter hochzuschieben, und weil er zu dem Schwarzen ›bitte‹ gesagt hat.«
»Stimmt, das hat er.« Brunetti nippte nachdenklich an seinem Wein. Auch ihn hatte Marvillis Zuvorkommenheit angenehm berührt. »Hoffen wir, das du recht behältst«, meinte er nur.
Es war lange nach drei, als sie in die Questura zurückkehrten, doch der restliche Nachmittag brachte nichts Neues. Signorina Elettra blieb verschwunden und begründete ihre Abwesenheit nicht
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