Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
einmal telefonisch, zumindest nicht Brunetti gegenüber. Keine der Carabinieri-Stationen, die er kontaktiert hatte, meldete sich. Und als Brunetti noch einmal in der Riva degli Schiavoni anrief, hieß es lediglich, Marvilli sei immer noch unterwegs. Der Commissario hinterließ weder eine Nachricht, noch erneuerte er sein Ersuchen, den Posten im Krankenhaus abzuziehen.
Kurz vor fünf wählte er die Nummer der Neurologie und ließ sich mit Schwester Sandra verbinden. Sie erinnerte sich an seinen Namen und gab ihm bereitwillig Auskunft: Dottor Pedrolli habe seine Sprache zwar noch nicht wiedergefunden, nehme aber offenbar wahr, was um ihn herum vorgehe. Und ja, seine Frau sei bei ihm. Sie selbst habe, fuhr die Schwester fort, ihrem Instinkt vertraut und Dottor Pedrolli vor den Carabinieri abgeschirmt. Der Posten im Korridor, der jedem, mit Ausnahme von Ärzten und Pflegepersonal, den Zutritt verweigere, sitze allerdings immer noch vor seiner Tür.
Brunetti bedankte sich bei Schwester Sandra und legte auf. Soviel zur einvernehmlichen Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Polizeidiensten. Machogefechte, Revierkämpfe, Eskalation: Egal, wie man es nannte, der Commissario wußte, was ihm bevorstand. Aber heute wollte er sich noch nicht damit befassen, sondern beschloß, es auf den nächsten Tag zu verschieben.
Normalerweise schätzte Brunetti es gar nicht, wenn es mittags und abends das gleiche zu essen gab. Aber zwischen den Thunfischsteaks, die Paola in einer Sauce aus Kapern, Oliven und Tomaten gegart hatte, und den Tramezzini al tonno, die er zu Mittag gehabt hatte, lagen Welten. Trotzdem war er klug und taktvoll genug, letztere daheim nicht zu erwähnen, da auch der Vergleich mit einer so armseligen Konkurrenz Paola hätte kränken können. Er und sein Sohn Raffi teilten sich das letzte Stück Fisch, und Brunetti löffelte die restliche Sauce auf seine zweite Portion Reis.
»Nachtisch?« erkundigte sich Chiara bei ihrer Mutter, und Brunetti stellte fest, daß er tatsächlich noch Platz für etwas Süßes hatte.
»Wir haben Feigeneis«, sagte Paola und versetzte Brunetti damit in freudige Erwartung.
»Feigeneis?« wiederholte Raffi verwundert.
»Von der Gelateria am Campo San Giacomo dell'Orio«, erklärte Paola.
»Das ist doch die, wo es lauter so abenteuerliche Geschmackssorten gibt, nicht wahr?« fragte Brunetti.
»Ja, aber das Feigeneis ist sagenhaft gut. Der Inhaber sagte, es sei das letzte für diese Saison.«
Das Eis schmeckte wirklich sagenhaft, und nachdem sie zu viert ein ganzes Kilo verputzt hatten, begaben sich Brunetti und Paola ins Wohnzimmer, wo sie, dem Rezept von Brunettis Onkel Ludovico folgend, das schwere Essen mit je einem kleinen Glas Grappa hinunterspülten.
Als sie so nebeneinandersaßen und zusahen, wie das letzte Tageslicht langsam im Westen erlosch, sagte Paola: »Wenn wir demnächst die Uhren zurückstellen müssen, wird es noch vor dem Abendessen dunkel. Das ist für mich das Schlimmste am Winter, daß die Tage immer kürzer und kürzer werden und die Nächte gar kein Ende nehmen.«
»Wir können immerhin froh sein, daß wir nicht in Helsinki wohnen«, bemerkte Brunetti und trank einen Schluck Grappa.
»Ich glaube«, sagte Paola und rutschte hin und her, bis sie eine bequemere Position gefunden hatte, »den Satz würde ich für jede Stadt der Welt unterschreiben.«
»Rom?« schlug er vor, und sie nickte. »Paris?« Sie nickte heftiger. »Los Angeles?« stellte er sie auf die Probe.
»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«
»Woher diese plötzliche Anhänglichkeit ans Vaterland?«
»Nicht ans ganze Land - Gott bewahre! -, sondern nur an unsere unmittelbare Heimat.«
»Gut, aber wieso jetzt, auf einmal?«
Paola trank ihren Grappa aus, neigte sich seitwärts zum Tisch und stellte das Glas ab. »Weil ich heute morgen auf dem Campo San Basilio war. Einfach so, ohne daß ich einen Termin hatte oder etwas besorgen mußte. Nein, ich bin dort herumflaniert wie ein Tourist. Es war noch früh, vor neun Uhr, und kaum jemand unterwegs. In einer pasticceria, in der ich noch nie gewesen war, servierte man mir eine Brioche, so luftigleicht wie Manna, und einen Cappuccino, der einfach himmlisch schmeckte, und der Barmann plauderte mit jedem, der hereinkam, übers Wetter, und alle sprachen Veneziano, und ich fühlte mich in meine Kindheit zurückversetzt, als Venedig bloß eine verschlafene kleine Provinzstadt war.«
»Das ist es heute noch«, warf Brunetti ein.
»Ja, schon,
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