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Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume

Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume

Titel: Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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»Tiger. Böser Tiger. Laut brüllen. Tigerbrüllen.«
    »Und hast du die vom Tigermann?« Brunetti hielt dem Jungen die beiden Schmuckstücke hin.
    Verstört blickte das Kind ihn an. »Nein, nein!«, sagte es und schüttelte heftig den Kopf. »Die wir nehmen. Tigermann sehen.« Seine Augen verengten sich, als versuche es angestrengt, sich an etwas zu erinnern oder eine Erinnerung zu verdrängen. Dann sagte es: »Ariana. Er nehmen Ariana.« Um Brunetti zu zeigen, was er meinte, streckte der Junge beide Arme vor sich aus und tat so, als hebe er etwas hoch. »Wie Sie nehmen mich«, ergänzte er, stemmte die leeren Hände in die Luft und erstarrte in der Stellung. Brunetti wartete.
    »Die Tür. Ariana aus Tür raus«, sagte er, stieß seine Arme heftig von sich weg und ließ die Hände aufschnellen. Brunetti sah, dass er weinte.
    Seine Knie begannen zu schmerzen, aber er blieb in der Hocke, um das Kind nicht zu erschrecken, wenn er sich plötzlich aufrichtete. Er ließ dem Jungen Zeit, sich auszuweinen, und fragte erst, als er sich etwas beruhigt zu haben schien: »Wer war noch dabei?«
    »Xenia«, sagte das Kind und hob einen seiner ausgestreckten Arme auf Schulterhöhe.
    »Hat sie den Tigermann auch gesehen?« Der Junge nickte. »Und hat sie auch gesehen, was er getan hat?« Wieder nickte er.
    »Weiß deine Mutter davon?«, fragte Brunetti. Er nickte zum dritten Mal.
    »Wird sie mit mir sprechen?«
    Der Junge starrte Brunetti an, dann schüttelte er den Kopf. »Weil dein Vater dagegen ist?« Der Junge zuckte die Achseln. »Was machst du in der Stadt?«, fragte Brunetti. »Arbeiten«, sagte der Junge so selbstverständlich, dass es Brunetti die Sprache verschlug.
    »Wirst du deiner Mutter erzählen, dass du mit mir gesprochen hast?«
    »Ja. Sie wollen.«
    »Will sie sonst noch etwas?«, fragte Brunetti. »Tigermann. Tigermann sterben«, stieß der Junge grimmig hervor, und Brunetti erriet, dass seine Mutter nicht die Einzige war, die auf Rache sann. »Wie Ariana«, sagte das Kind mit der Brutalität eines Erwachsenen.
    Brunetti hielt es nicht länger aus. Er stieß sich mit gespreizten Fingern vom Boden ab, und als er sich langsam aufrichtete, knackte sein rechtes Knie. Wie er befürchtet hatte, wich der Junge zwei Schritte zurück und hob unwillkürlich den Arm vors Gesicht.
    Brunetti vergrößerte den Abstand zwischen ihnen. »Keine Angst, ich tu dir nichts.« Da ließ der Junge den Arm wieder sinken.
    »Wenn du willst, kannst du jetzt gehen«, sagte Brunetti.
    Als der Junge ihn verständnislos anblickte, wandte er sich um und ging bis ans Ende der Gasse, wo sie im rechten Winkel auf die Calle dell' Albero traf. »Ich gehe jetzt wieder in die Questura«, rief er über die Schulter zurück. »Sag deiner Mutter, dass ich sie sprechen möchte.«
    Der Junge, der wie aus dem Boden gewachsen neben ihm aufgetaucht war, schüttelte nur stumm den Kopf.
    Den Rücken dicht an die Hausmauer gepresst, zwängte der Junge sich an Brunetti vorbei. Dann bog er links ab und rannte auf die Brücke zu, die sie beide heruntergekommen waren.
    Am Fuß der Brücke blieb er stehen, drehte sich aber nicht nach Brunetti um. Als er die erste Stufe erklomm, rief Brunetti ihm nach: »Du bist ein guter Junge, Dusan!« Im nächsten Moment hatte das Kind den Scheitel der Brücke erreicht und verschwand aus seinem Blickfeld.

28
    »Tigermann?«, wiederholte Vianello, nachdem Brunetti ihm von seiner Begegnung mit den Fornaris und dem Kind erzählt hatte. »Eine bessere Beschreibung hat er dir nicht geliefert?«
    »Nein. Nur, dass jemand, der in seinen Augen aussah wie ein Tiger, ihn und seine Schwestern in der Wohnung überraschte, das kleine Mädchen gepackt und zur Tür hinausgeworfen hat.« Brunetti hielt inne, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und setzte hinzu: »So zumindest habe ich es mir zusammengereimt.«
    »Und dafür will der Junge ihn umbringen?« »Das Elternschlafzimmer hat eine Tür zur Terrasse«, erinnerte ihn Brunetti. »Sie könnte dort heruntergestürzt und vom Dach gefallen sein.«
    »Möglich«, gab Vianello zu, »aber ich habe nirgends ein Tigerfell gesehen.«
    »Er ist noch ein Kind, Lorenzo! Was er sagt, darfst du nicht so wörtlich nehmen. Wer weiß, was er unter einem Tigermann versteht? Es könnte jemand in einem gestreiften Schlafanzug sein, oder ein Mann, der ihn mit tiefer Stimme angebrüllt hat.«
    »Wir wissen ja nicht mal«, fügte Vianello nach einigem Überlegen an, »ob der Kleine das richtige Wort gebraucht hat,

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