Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
nicht wahr?« Als Brunetti dazu schwieg, fuhr Vianello fort: »Du hast mir doch gesagt, er sprach nur ein paar Brocken italienisch. Glaubst du, er wusste, was das Wort bedeutet?«
Brunetti, der die Italienischkenntnisse des Jungen in dem Punkt sehr wohl für ausreichend hielt, konnte Vianellos Einwand dennoch nicht von der Hand weisen. Bis ihm einfiel, wie der Junge seine Haare zu einer Raubtiermähne aufgeplustert und auf seinen Armen die Streifen eines Tigers dargestellt hatte. Aber die Phantasien eines Kindes stimmten nicht notwendig mit denen eines Erwachsenen überein. »Armer Teufel«, seufzte Vianello. »Meinst du den Jungen?«, fragte Brunetti.
»Natürlich, wen denn sonst?«, gab Vianello zurück. »Wie alt ist er? Zwölf? So ein Kind sollte zur Schule gehen und nicht als Einbrecher arbeiten.« Brunetti verzichtete darauf, Vianello seine widersprüchlichen Meinungen vorzuhalten, und ließ ihn fortfahren.
»Er ist noch ein Kind«, wiederholte der Inspektor empört. »Er macht so was doch nicht aus eigenem Antrieb.« Angewidert warf Vianello die Arme in die Luft. Aus seiner Kehle drang ein zorniger Laut.
»Hört sich an, als hättest du zumindest für einen von denen ein gewisses Mitgefühl«, bemerkte Brunetti. Aber er grinste dabei, und Vianello nahm es ihm nicht übel.
»Nun ja, du weißt doch, wie das ist: Der Einzelne weckt leicht unsere Anteilnahme. Erst beim Verallgemeinern wirft man alles in einen Topf, und dann rutschen einem solche Sachen heraus. Dumme Sachen.« Vermutlich bezog Vianello sich auf die Dinge, die er zuvor geäußert hatte, womit seine jetzige Äußerung einer Entschuldigung gleichkam.
Brunetti schwieg noch immer, und Vianello fuhr fort: »Dieses verdammte Ohnmachtsgefühl - das ist es, was mich so fertigmacht. Vorhin habe ich mit Pucetti gesprochen. Der Lebensmittelhändler bei der Miracoli-Kirche hat Anzeige erstattet. Offenbar ist heute Morgen ein Junkie mit einer Eisenstange in seinen Laden gestürmt und hat gedroht, alles kurz und klein zu schlagen, falls man ihm kein Geld gibt.«
Geschichten wie diese hatte Brunetti schon so oft gehört, dass er ahnte, wie sie ausgehen würde.
»Er hat zwanzig Euro bekommen«, fuhr Vianello fort. »Damit hat er sich in der Bar nebenan eine Flasche Wein gekauft und sie auf der Bank vor dem Laden getrunken. Da hat der Inhaber uns angerufen.« Vianello streckte die Beine aus und starrte auf seine Fußspitzen. Auch er kannte solche Geschichten zur Genüge. »Also hat Pucetti sich auf den Weg gemacht. Er wollte Alvise mitnehmen, aber der war zu beschäftigt.« Vianello seufzte tief und schüttelte den Kopf. »Schließlich ist er mit Fede und Moretti losgezogen, und als sie hinkamen, saß der Typ immer noch ganz harmlos auf der Bank, so als wolle er sich bloß ein wenig ausruhen. Der Ladenbesitzer hat ihn identifiziert, Pucetti nahm eine Anzeige auf, und sie brachten den Typen mit auf die Questura. Zwei Stunden später haben wir ihn wieder laufenlassen.«
Es schien, als sei Vianello fertig, aber dann sagte er: »Erinnert mich an diesen Mutti. Der ist übrigens verschwunden. Dein Freund Zeccardi hat angerufen.« »Was hat er gesagt?«
»Leonardo Mutti wohnte in Dorsoduro. Als die Kollegen von der Finanza ihm auf die Pelle rückten und die Unterlagen seiner Organisation einsehen wollten, bestellte er sie für den nächsten Tag in das Büro dieser Gemeinschaft der ›Kinder Jesu Christi‹.«
»Und?«, fragte Brunetti, obwohl der Zusammenhang, in dem Vianello auf Mutti gekommen war, schon erkennen ließ, wie es weiterging.
»Die Büroadresse, die er den Kollegen angegeben hatte, gehörte zu einer Bar, in der ihn kein Mensch kannte. Und als die Jungs von der Finanza wieder in seine Wohnung kamen, hatte Mutti sich bereits abgesetzt. Wie und wohin, wusste niemand.« »Mit dem Fahrstuhl in den Himmel?«, ulkte Brunetti. »Was?«, fragte Vianello verblüfft. »Ach, nichts«, sagte Brunetti. »Schlechter Scherz.«
Die Gefängnisse waren hoffnungslos überbelegt, und die Regierung, die nach der letzten Amnestie zu sehr unter Beschuss geraten war, um so bald schon die nächste zu verfügen, rief die Polizei mit immer neuen Erlassen des Innenministeriums dazu auf, nur noch wirklich gefährliche Gewaltverbrecher zu inhaftieren. Die Ohnmacht, die sich daraufhin sowohl in den Reihen der Polizei als auch unter der Bevölkerung breitmachte, schürte auf beiden Seiten einen unterschwelligen Zorn. Abhilfe war nicht in Sicht.
Brunetti gab sich einen Ruck und
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