Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
ihr aufs Wort.
Angestachelt von den heftigen Attacken seiner Frau gegen den angeblich so unsäglichen Schrott im zeitgenössischen Theater und Kino, hatte Brunetti vor einigen Monaten beschlossen, die griechischen Dramatiker wiederzulesen. Schließlich waren sie die Väter des Theaters gewesen, was sie vielleicht zu den Großvätern des Kinos machte, eine Nachkommenschaft, die Brunetti ihnen nur ungern anhängte.
Angefangen hatte er mit Lysistrata - was Paolas herzliche Zustimmung fand -, dann kam die Orestie, an der ihm zu schaffen machte, dass schon vor zweitausend Jahren offenbar niemand so recht wusste, was Gerechtigkeit bedeutet. Als Nächstes Die Wolken, in denen Sokrates so köstlich verulkt wurde, und jetzt war er bei den Troerinnen angelangt, wo, wie er wusste, kein Platz mehr für Späße war.
Sie hatten schon etwas auf dem Kasten, diese Griechen!
Sie wussten, was Gnade bedeutet, auch wenn sie sich mit der Rache noch besser auskannten. Sie wussten, dass das Glück wie in einem Narrentanz davonspringt und wiederkehrt, nur um abermals zu entwischen. Und sie wussten, dass immerwährendes Glück niemandem vergönnt ist.
Das Buch sank auf seine Brust, und er starrte aus dem Fenster in die zunehmende Dunkelheit. Dem Bericht vom Tod des Astyanax fühlte er sich heute Abend nicht gewachsen. Brunetti schloss die Augen, und aus dem Dunkel hinter seinen Lidern tauchte das tote Mädchen auf, ja er glaubte, wieder ihre seidigen Haarsträhnen um sein Handgelenk zu spüren.
Mit mehr Getöse, als eine Tür beim Öffnen machen sollte, flog die Wohnungstür auf, und Chiara polterte herein. Für Brunetti war es ein Rätsel, wie ein so zartgliedriges Persönchen beständig solchen Krach veranstalten konnte. Dauernd prallte sie irgendwo dagegen, ließ Bücher fallen oder blätterte so geräuschvoll darin, dass sie es mit dem Lärmpegel einer Vespa hätte aufnehmen können, und schaffte es regelmäßig, mit dem Besteck schrill über den Teller zu kratzen.
Er hörte, wie sie vor der Tür zum Wohnzimmer innehielt, und rief: »Ciao, angelo mio!«
Ihre Hand patschte ein paar Mal gegen die Wand, und dann ging das Licht in der Ecke an. »Ciao, papà«, sagte sie. »Versteckst du dich vor mamma?« Er sah sie in der Tür stehen, die kleinere Ausgabe ihrer Mutter, nur dass auf einmal der Unterschied kaum mehr ins Gewicht fiel. Wann war sie diese letzten paar Zentimeter gewachsen, und wieso hatte er das bisher nicht mitbekommen?
»Nein, ich sitze nur hier und lese«, antwortete er. »Im Dunkeln?«, fragte sie. »Cleverer Trick!«
»Na ja«, räumte Brunetti ein, »zuerst habe ich gelesen, aber dann wollte ich ein bisschen nachdenken über das, was ich gelesen hatte.« »So wie sie uns das in der Schule immer predigen?«, fragte sie unbefangen, während sie näher kam und sich neben ihm aufs Sofa plumpsen ließ.
»Das ist doch wohl eine Scheinfrage?«, mutmaßte Brunetti, während er sich hinüberbeugte und sie auf die Wange küsste.
Chiara brach in schallendes Gelächter aus. »Na klar! Wozu würde man denn überhaupt lesen, wenn man sich nicht auch Gedanken macht über das, was man liest?« Sie lehnte sich zurück, legte die Füße neben seine auf den Tisch und wackelte damit hin und her. »Trotzdem beknien die Lehrer uns dauernd: ›Setzt euch auseinander mit dem, was ihr lest. Diese Bücher sollen euch als Vorbild dienen, sollen euer Leben bereichern.‹« Bei diesen letzten Sätzen hatte sich ihre Stimme gesenkt, und der venezianische Tonfall war einem so reinen Florentiner Akzent gewichen, dass selbst Dante seine Freude daran gehabt hätte.
»Ja, und?«, forschte Brunetti.
»Wenn du mir sagst, wie mein Mathebuch mein Leben bereichern kann, dann nehme ich ein für allemal die Füße vom Tisch. Versprochen!« Chiara kippte ihren linken Fuß nach außen und tippte ein paar Mal gegen seinen rechten, wie um ihn daran zu erinnern, dass Paola keine Füße auf dem Tisch duldete.
»Deine Lehrer wollen das, glaube ich, in einem allgemeineren Sinn verstanden wissen«, begann Brunetti. »Das sagst du immer, wenn du sie verteidigen willst.« »Vor allem, wenn sie Unsinn verzapfen?«, fragte er. »Ja. Meistens.« »Und machen das viele?«, forschte er weiter.
Diesmal ließ Chiaras Antwort auf sich warten. »Nein, ich glaube nicht. Am schlimmsten ist wohl Professoressa Manfredi.« Das war Chiaras Geschichtslehrerin, deren Thesen schon für jede Menge Diskussionsstoff bei Tisch gesorgt hatten. »Aber alle wissen ja, dass sie zur Lega
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