Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
Aussteigen. Ohne abzurutschen, erklomm der Ispettore die Stufen, und Brunetti stützte ihn, bis auch er sicher oben anlangte.
Sie gingen bis zur nächsten Ecke, bogen zweimal kurz hintereinander rechts ab und wandten sich wieder Richtung Kanal. Als sie ans Wasser gelangten, waren die Schultern ihrer Jacken triefnass. Foa hielt sich mit dem Boot ein Stück weit vom Ufer entfernt in Bereitschaft.
Brunetti tastete sich an der Hausmauer entlang und spähte angestrengt ins Wasser. Das schemenhafte Bündel war noch da, trieb rechts von ihm etwa einen Meter neben der untersten Stufe. Von dort aus müsste es, wenn Vianello ihn sicherte, erreichbar sein.
Er löste sich von der Mauer, setzte vorsichtig einen Fuß ins Wasser und nahm die Treppe in Angriff; das Wasser reichte ihm bis zu den Knien. Plötzlich war Vianello neben ihm und hielt sein linkes Handgelenk umklammert. Brunetti beugte sich nach rechts, holte weit aus und haschte nach dem lichten Schatten im Wasser. Klatschend landete das rechte Vorderteil seiner Jacke im Wasser, während ihm das eisige Nass bis zu den Oberschenkeln reichte.
Seide! Es fühlte sich an wie Seide. Brunetti schlang seine Finger um die Strähnen und zog sachte daran. Er spürte keinen Widerstand und zog, während er sich aufrichtete, das Geflecht mühelos näher. Als es so dicht herangetrieben war, dass er eine Stufe höher steigen konnte, breiteten die Seidensträhnen sich aus und umschlossen sein Handgelenk. Ein Frachtkahn tuckerte Richtung Rialto vorbei, ohne dass der Mann am Steuer von den Männern am Ufer Notiz nahm. Brunetti gab Vianello ein Zeichen, woraufhin der ihn losließ und neben ihn ins Wasser watete. Ein vorsichtiger Ruck Brunettis genügte, und das Bündel kam noch näher. Nicht weit von der trudelnden Seide erblickten sie wieder den Fuß. Dann schwappte die Kielwelle des Obstkahns herüber, der Fuß drehte sich und trieb langsam auf Vianello zu.
»Himmel hilf!«, murmelte der Inspektor. Er trat auf die untere Treppenstufe, bückte sich, umschloss den Knöchel mit der Hand und zog sachte daran. Mit regennassem Gesicht sah er zu Brunetti auf und sagte: »Ich mach das schon.«
Brunetti ließ das Seidengespinst los, hielt sich aber dicht neben seinem Freund, um ihn festzuhalten, falls er auf dem glitschigen Algenteppich ausrutschte. Vianello beugte sich vor, schob beide Arme unter den Körper und hievte ihn aus dem Wasser. Ein langes Stück Stoff baumelte von den Beinen herab und wickelte sich um Vianellos Hose. Mit der Leiche auf den Armen stieg der Inspektor rückwärts die Treppe hinauf an Land. Er und seine Last trieften vor Nässe.
Ein paar Schritte vom Kanal entfernt ließ Vianello sich auf die Knie nieder und legte die Leiche vor sich auf dem Boden ab. Die lange Rockbahn schälte sich von seinen Beinen und glitt auf den Körper des Mädchens nieder. Ein Fuß steckte in einer billigen rosa Plastiksandale, der andere war bloß, aber ein paar helle Streifen auf der Haut zeigten an, wo die Riemchen sie vor der Sonne geschützt hatten. Die Jacke war bis zum Hals zugeknöpft, doch es gab nichts mehr, was sie hätte wärmen können.
Das Mädchen war klein und zierlich, mit blonden Haaren, die sich fächerförmig um ihren Kopf ausbreiteten. Brunetti blickte in ihr Gesicht, dann wieder auf die Füße und auf ihre Hände, bevor er sich endlich eingestand, dass sie noch ein Kind war. Vianello erhob sich so schwerfällig wie ein alter Mann. Plötzlich vernahmen die beiden ein anschwellendes Geräusch, dann trat wieder Stille ein, und nur der Regen prasselte aufs Wasser. Sie blickten auf, und da war Foa mit ihrem Boot, das nur eine Haaresbreite neben der Ufermauer schaukelte.
»Bestellen Sie Bocchese her«, rief Brunetti dem Bootsführer zu und wunderte sich, dass seine Stimme ganz normal klang. »Wir brauchen die Spurensicherung. Und einen Arzt.«
Foa winkte zum Zeichen, dass er verstanden habe, und griff nach seinem Funkgerät. »Vielleicht sollte er zurückfahren und sie abholen«, schlug Vianello vor. »Hier kann er ja doch nichts ausrichten.«
Noch während Brunetti dem Bootsführer auftrug, die Kriminaltechniker herzubringen, war klar, dass von ihnen beiden keiner mit zurückfahren würde. Sobald die Barkasse außer Sicht war, entfernten sie sich ein Stück weit von der kleinen Leiche und stellten sich in einem Hauseingang unter, behielten aber die calle im Auge, um jeden, der sich unbefugt nähern sollte, aufhalten zu können. Doch nur oben an der Ecke gingen hin und
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