Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
ablegte und eins ihrer Augenlider hochzog. Brunetti sah eine grüne oder blaue Iris aufblitzen, die Rizzardi jedoch gleich wieder verdeckte. Mit beiden Händen presste er die Kiefer auseinander, spähte in die Mundhöhle und drückte dann mehrmals fest auf die Brust des Mädchens. Doch aus ihrem Mund sickerte kein Wasser, falls er das denn wirklich erwartet hatte.
Der Gerichtsmediziner hob eine Bahn des durchnässten Rocks hoch und schlug sie bis übers Knie zurück. Der Rest klebte unter ihrem Körper fest, und er rührte nicht daran. Als Nächstes streifte er die Pulloverbündchen zurück, doch ihre Gelenke wiesen keinerlei Male oder Narben auf. Rizzardi griff abermals nach der Hand des Mädchens; diesmal drehte er sie um und untersuchte die Innenfläche. Hier, wie auch an der anderen Handfläche, fand er Hautabschürfungen: mögliche Indizien dafür, dass das Mädchen über unebenen Grund geschleift worden war. Rizzardi beugte sich tiefer und nahm die Fingernägel in Augenschein, bevor er die Hände wieder auf dem Pflaster ablegte.
Stumm reichte Bocchese dem Doktor zwei durchsichtige Plastiktüten, die er über die Hände des Mädchens zog und zuband. »Habt ihr eine Vermisstenmeldung, ein Kind betreffend?«, erkundigte sich Rizzardi.
»Bis einschließlich gestern nicht, soviel ich weiß«, antwortete Brunetti. Fragend sah er Vianello an, doch der schüttelte nur den Kopf.
»Könnte ein Touristenkind sein«, spekulierte Rizzardi. »Aus dem Norden vielleicht - Haare und Augen sind jedenfalls ziemlich hell«
Das traf auch auf Paola zu, dachte Brunetti, behielt es aber für sich.
Der Gerichtsmediziner richtete sich auf, und genau in dem Moment brach die Sonne durch die restlichen Wolken und erhellte die Szene: eine Gruppe von Männern, die eine Kinderleiche umstanden. Bocchese senkte den Blick zu Boden, und als er sah, dass sein Schatten auf dem Gesicht des Mädchens lag, wich er hastig zurück.
»Gesicherte Angaben kann ich erst nach der Obduktion machen«, erklärte Rizzardi, und Brunetti fiel auf, dass er diesmal auf seine üblichen Redewendungen wie »muss sie erst aufschneiden« oder »mal reinschauen« verzichtete.
Trotzdem konnte er sich die Frage nicht verkneifen: »Hast du schon irgendeine Vermutung, Ettore?«
Der Doktor schüttelte den Kopf. »Keine Anzeichen von Gewalteinwirkung, außer an den Händen.« Vianello gab ein fragendes Geräusch von sich.
»Die Schrammen«, erläuterte Rizzardi. »Die könnten uns Aufschluss darüber geben, wo sie zu Tode kam.« Und an Bocchese gewandt setzte er hinzu: »Hoffentlich finden wir was, das Ihnen einen Anhaltspunkt liefert, Bocchese.«
Bocchese, der nie sonderlich gesprächig war, hatte seit seinem Eintreffen noch kein Wort gesagt. So direkt angesprochen, schien er wie aus einer Trance zu erwachen. Den Blick auf sein Team gerichtet, erkundigte er sich bei Brunetti: »Sind Sie so weit fertig?«
»Ja.«
Worauf Bocchese seine Leute anwies: »Also los, Jungs, dann macht eure Fotos.«
13
M an verliert keine Kinder«, sagte Paola am selben Abend vor dem Essen, nachdem er ihr berichtet hatte, was geschehen war. »Die Leute verlegen ihre Schlüssel oder Handys, sie verlieren ihre Brieftasche oder lassen sie sich klauen, aber seine Kinder verliert man nicht, schon gar nicht, wenn die erst zehn Jahre alt sind.« Paola hielt inne, während sie sich eine Zwiebel auf dem Schneidebrett zurechtlegte, und fuhr dann fort: »Ich kann mir das wirklich nicht vorstellen. Es sei denn, es hätte sich zugetragen wie bei dieser Episode im Lukas-Evangelium, wo Jesus mit seinen Eltern nach Jerusalem geht und er ihnen auf dem Heimweg abhandenkommt.«
Großer Gott, die Frau las einfach alles, was ihr in die Finger kam!
»Als sie ihn endlich wiederfanden«, sagte Paola, während sie der Zwiebel die Haut abzog und anfing, sie klein zu hacken, »da war er in den Tempel zurückgekehrt und predigte den Schriftgelehrten.«
»Und du glaubst, so könnte es auch bei diesem kleinen Mädchen gewesen sein?«, fragte Brunetti.
»Aber nein!« Paola legte das Messer hin und sah ihn an. »Ich habe wohl einfach Angst, mir etwas anderes vorzustellen.« »Wie dass sie womöglich ermordet wurde?«
Paola bückte sich und nahm eine große Pfanne aus dem Unterschrank. »Sei so gut, Guido, ich kann darüber nicht reden. Zumindest jetzt nicht.«
»Kann ich dir was helfen?«, fragte er und hoffte, sie würde nem sagen.
»Gib mir ein Glas Wein und dann geh und lies was«, sagte sie, und er folgte
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