Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
gelassen und tippte noch ein paar Tasten an.
»Was teilen Sie ihm denn nun mit?« »Dass er mich treffen soll« »Einfach so?«
»Ja, sicher«, antwortete sie lächelnd.
»Und niemand schöpft Verdacht? Sie schicken einem Priester eine Mail und bitten ihn um ein Treffen, und wer immer Ihre Nachrichten angeblich aufzeichnet, wird da nicht misstrauisch? Wenn die Mail noch dazu von der Questura kommt?« »Aber nein, Commissario!«, versicherte sie entschieden. »Außerdem benutze ich natürlich eins meiner privaten MailKonten.« Ihr Lächeln wurde breiter, woraus er schloss, dass das noch nicht alles war. »Und mein Wunsch, ihn zu treffen, ist völlig unverdächtig. Er ist nämlich mein Beichtvater.«
15
B runetti hätte sich über Signorina Elettras Verhältnis zur Geistlichkeit amüsiert, wäre da nicht die Erinnerung an das tote Mädchen gewesen. Was ihn vor allem belastete, war der Gedanke an die dem Kind geraubten Jahre und Jahrzehnte. Wann immer ein junges Leben mutwillig ausgelöscht wurde sei es durch ein Verbrechen oder einen der vielen nutzlosen Kriege -, zählte er die gestohlenen Jahre. Bei einer natürlichen Lebenserwartung von siebzig gingen zu Lasten seiner eigenen Regierung Jahrhunderte, aufs Konto anderer Staaten gar Jahrtausende der Freude und des Glücks, um die Kinder und Heranwachsende schmählich betrogen worden waren. Selbst wenn das Leben ihnen Kummer und Leid beschert hätte, wäre es immerhin noch ein Leben gewesen und nicht die Leere, die Brunetti nach dem Tod gähnen sah.
Während er oben in seinem Büro auf den Obduktionsbericht wartete, nahm er sich noch einmal die drei Morgenzeitungen vor. Doch als er von der letzten Seite des dritten Blattes aufsah, wusste er schon nicht mehr, was er gelesen hatte, sondern dachte nur immerzu an die sechzig geraubten Lebensjahre des Mädchens, das Vianello aus dem Wasser gezogen hatte.
Brunetti faltete die letzte Zeitung zusammen und legte sie zu den übrigen. Mit einer Fingerspitze schnippte er ein paar Staubflocken zur Tischkante, von wo sie unsichtbar zu Boden schwebten. Vielleicht war das Mädchen ja unglücklich gestolpert, gestürzt und, da es nicht schwimmen konnte, im Kanal ertrunken? Aber selbst dann bliebe Paolas Einwand bestehen: Ein Kind ging nicht einfach verloren. Das hier war schließlich keine Gesellschaftskomödie um einen Säugling in einer Reisetasche, der bei der Gepäckaufbewahrung am Victoria-Bahnhof deponiert und nicht wieder abgeholt wurde. Hier handelte es sich um ein zehnjähriges Mädchen, das seit Tagen verschwunden war, ohne dass jemand es vermisste. Das Telefon klingelte.
»Ich dachte, ich geb dir schon mal vorab Bescheid«, sagte Rizzardi, als Brunetti sich gemeldet hatte. »Damit du nicht auf den schriftlichen Bericht zu warten brauchst.« »Danke«, erwiderte Brunetti. Und dann brach es aus ihm heraus: »Sie will mir einfach nicht aus dem Kopf.«
Aus dem beipflichtenden Grummeln des Pathologen war nicht zu erkennen, wie ihm selber zumute war. Brunetti legte sich ein Blatt Papier bereit.
»Alter bleibt wie geschätzt: zehn oder elf«, begann Rizzardi, hielt dann inne und räusperte sich. »Todesursache Ertrinken. Sie hat etwa acht Stunden im Wasser gelegen.« Demnach, überschlug Brunetti, musste sie ungefähr um Mitternacht in den Kanal gefallen sein.
»Vielleicht auch länger«, fuhr Rizzardi fort. »Wasser- und Lufttemperatur sind nicht identisch, was die Bestimmung des Todeszeitpunkts erschwert. Ich habe einen meiner Männer losgeschickt, um die Wassertemperatur zu messen. Wenn das Ergebnis vorliegt, kann ich den Todeszeitpunkt vielleicht präziser eingrenzen.« Und nach einer weiteren Pause: »Diese technischen Details interessieren dich eigentlich nicht, Guido, oder?«
»Nein, nicht wirklich.«
»Dann sagen wir vorläufig gegen Mitternacht«, konstatierte Rizzardi. »Plus minus eine Stunde. Genauer kann ich mich gegenwärtig nicht festlegen.«
»Schon gut.« In jeder Äußerung Rizzardis schwang ein Zaudern mit, und Brunetti war vor allem gespannt darauf, was sich dahinter verbarg. Er hätte nachfragen, den Pathologen aus der Reserve locken können, aber sein Gefühl sagte ihm, es sei besser, Rizzardi seinen eigenen Weg finden und ihn von sich aus auf den Punkt kommen zu lassen, der ihm offenbar so zu schaffen machte.
»Es gibt Spuren«, begann der Pathologe und hielt dann wieder inne, um sich zu räuspern. »Spuren, die eindeutig auf Geschlechtsverkehr hinweisen.«
Das kam so unerwartet, dass es
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