Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume

Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume

Titel: Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
Vom Netzwerk:
raufzuschicken. Ja, und Dottor Rizzardi bestellen Sie bitte, falls er Fotos gemacht hat, möchte ich die auch sehen. Das wär's dann.«
    »In Ordnung, Commissario«, erwiderte Pucetti und hatte auch schon aufgelegt.
    Brunetti fühlte sich unversehens an jene Szene aus den Troerinnen erinnert, in der dieser Griechenherold - Tal-und-wie-weiter? - den zerschmetterten Leichnam des kleinen Astyanax zu dessen Großmutter bringt. Als seine Soldaten mit dem ermordeten Kind den Fluss Skarnander durchquerten, berichtet Talthybios - richtig, so hieß er -, da habe er den Toten gewaschen und seine Wunden gereinigt. Und was antwortet ihm Hekabe darauf? »Jetzt, nach Trojas Fall und aller Troer Tod, / Jagt euch dies Knäblein Angst ein, eine Angst, / Die euch nur zittern, nicht mehr denken lässt.« Wem aber machte das tote Zigeunermädchen Angst?
    Auf einmal fühlte Brunetti sich so unruhig, dass er selbst hinunter zu Bocchese ging, um die Fotos zu holen. Auf dem Weg zurück in sein Büro schaute er bei Vianello vorbei und bat ihn, mit nach oben zu kommen. Als sie an seinem Schreibtisch Platz nahmen, hatte er den Inspektor bereits über alles, was er von Rizzardi erfahren hatte, in Kenntnis gesetzt und ihre nächsten Schritte erläutert. Nun schlug er den Ordner mit Boccheses Fotos auf, und die beiden Männer sahen abermals das Gesicht des toten Kindes vor sich.
    Das Labor hatte über zwanzig Aufnahmen gemacht, und auf allen lag das Mädchen da wie eine Prinzessin aus dem Märchen. Ihr verfilztes, goldblondes Haar umrahmte das Gesicht wie ein Heiligenschein. So der erste Eindruck, der jedoch nur so lange vorhielt, bis der Blick des Betrachters auf das Pflaster fiel, auf dem die Prinzessin lag, und auf die schäbige, verschmutzte Baumwolljacke, die sich, hochgerutscht, um ihren Hals bauschte. Ein Schnappschuss zeigte die Spitze eines schwarzen Gummistiefels; ein anderer hatte eine einzelne bemooste Treppenstufe eingefangen, mit einer zusammengeknüllten Zigarettenschachtel im Eck. An diesen Ort würde sich kein Prinz verirren.
    »Sie hatte doch helle Augen, oder?«, fragte Vianello, während er das letzte Foto zurücklegte. »Schon, ja«, antwortete Brunetti.
    »Trotzdem hätte uns was auffallen müssen, und sei's nur der lange Rock.« Vianello stand auf, schlang die Arme um sich und ließ den Blick über die Fotos auf dem Schreibtisch wandern. »Aber man sieht's ihr einfach nicht an, ob sie eine ist oder nicht.« »Eine was?«
    »Na, Zigeunerin«, sagte Vianello.
    In Brunettis Stimme schwang noch seine Gereiztheit über die Zurechtweisung des Pathologen mit, als er klarstellte: »Rizzardi meint, wir müssten jetzt Roma sagen.« »Oh, vorbildlich politisch korrekt, unser Doktor.«
    Brunetti, der seinen pedantischen Hinweis umgehend bereute, wechselte hastig das Thema. »Falls niemand einen Einbruch gemeldet hat« - was laut Auskunft der Bereitschaft nicht der Fall war -, »dann haben die Bestohlenen den Diebstahl entweder noch nicht bemerkt, oder sie wollten keine Anzeige erstatten.«
    Bevor Brunetti die nächste Möglichkeit anführen konnte, warf Vianello ein: »Niemand macht sich mehr die Mühe, einen Einbruch anzuzeigen.«
    Als langgediente Polizeibeamte hatten die beiden natürlich auch die Faustregeln der Kriminalstatistik verinnerlicht, und eine der wichtigsten lautete: Je komplizierter und zeitaufwendiger es ist, eine Straftat zur Anzeige zu bringen, desto geringer bleibt das Anzeigenaufkommen.
    Brunetti ignorierte Vianellos Einwand und fuhr mit seiner Aufzählung fort: »Oder die Wohnungseigentümer haben sie auf frischer Tat ertappt, verscheucht und mit angesehen, wie sie ins Wasser fiel.«
    Vianello wandte ruckartig den Kopf ab und starrte aus dem Fenster.
    »Und, was meinst du?«, erkundigte sich Brunetti. So unerquicklich die Vorstellung auch war: Sie durften sie nicht ausklammern.
    »Am Körper hatte sie keine Verletzungen?«, fragte Vianello.
    »Nein. Jedenfalls hat Rizzardi nichts dergleichen erwähnt.«
    Vianello dachte lange über diese Antwort nach, bevor er sich erkundigte: »Willst du's sagen, oder soll ich das übernehmen?«
    Brunetti zuckte mit den Achseln. Er war der Vorgesetzte, also war es womöglich seine Pflicht, auch noch die letzte Möglichkeit in Worte zu fassen. »Oder jemand hat sie überrascht und vom Dach gestoßen.«
    Vianello nickte stumm. »Falls eine der letzten beiden Möglichkeiten zutrifft, ist es kein Wunder, dass man uns nicht verständigt hat«, sagte er endlich. »Also, was tun?«

Weitere Kostenlose Bücher