Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
Brunetti die Sprache verschlug. Er wusste nicht, was es zu bedeuten hatte, oder wusste natürlich schon, was es zu bedeuten hatte, aber nicht wie und was er fragen sollte.
»Keinerlei Anzeichen für eine Vergewaltigung, zumindest nicht in jüngster Zeit. Ich weiß nicht, wie ich's dir sagen soll. Das Kind hatte - ähem - Sex, was allerdings definitiv nichts mit ihrem Tod zu tun hat. Der zeitliche Abstand ist zu groß.«
Brunetti klammerte sich an den erstbesten Strohhalm, der sich ihm bot. »Könnte sie älter sein?«
»Ja schon, aber sicher nicht viel mehr als ein Jahr.« »Aha«, stammelte Brunetti und wartete darauf, dass der Pathologe fortfahren würde. Als dies nicht geschah, fragte er: »Und weiter?«
»Die Schrammen an ihren Handflächen. Dort sowie unter ihren Fingernägeln haben wir ein rötliches Material sichergestellt. Zwei Nägel waren abgebrochen, einer davon fast ausgerissen. Und am linken Fuß weist die Unterseite der Zehen ebenfalls starke Abschürfungen auf.«
»Was ist mit den Knien?« Brunetti versuchte, sich den kleinen Körper zu vergegenwärtigen. Ein Knie war entblößt gewesen; das andere hatte der triefnass an Rumpf und Gliedern klebende Rock verdeckt.
»Eins ist voller Schrammen. In denen wir ebenfalls rötliches, feinkörniges Material mit ein paar größeren' Splittern dazwischen sichergestellt haben.« »Und das andere?«
»Wurde offenbar vom Rock geschützt. Wir haben da vorn eine Stelle gefunden, wo der Stoff wie abgerieben ist.« »Sonst noch was?«, fragte Brunetti.
»Ja«, antwortete Rizzardi und räusperte sich zum dritten Mal, ehe er fortfuhr. »In einer Tasche, die in ihr Höschen eingenäht war, habe ich eine Uhr gefunden.« Dergleichen war Brunetti zwar schon zu Ohren gekommen, trotzdem hatte er, als sie die Leiche bargen, nicht dar an gedacht, unter den klatschnassen Stoffbahnen nach irgendwelchen Beutestücken zu suchen. Einen Moment lang blieb es still in der Leitung, dann sagte der Pathologe: »Und in ihrer Vagina war ein Ring versteckt.«
Auch davon hatte Brunetti schon gehört, es aber stets in die Gerüchteküche verwiesen.
»Sieht aus wie ein Trauring«, fuhr der Pathologe in sachlichem Ton fort. Brunetti äußerte sich nicht dazu, und Rizzardi ergänzte: »Aus Gold. Wie die Uhr, eine Taschenuhr.« Es entstand eine lange Pause, während der Brunetti seine bisherigen Annahmen korrigierte. Das blonde Haar und die hellen Augen des Mädchens hatten ihn blind gemacht für den langen Rock und die Hautfarbe, die selbst unter dem Riemchen ihrer Sandale auffallend dunkel gewesen war. »Zigeunerin?«, fragte er den Mediziner.
»Wir nennen sie jetzt Roma, Guido«, antwortete Rizzardi. Brunetti hätte am liebsten aufbegehrt: Wie man sie nennt, ist doch egal, verdammt, aber es darf sie keiner ungestraft ins Wasser stoßen. »Was ist mit dem Ring und der Uhr?«, fragte er mühsam beherrscht.
»In dem Ring sind Initialen und ein Datum eingraviert. Die Uhr wirkt antik. So eine mit Sprungdeckel.« »Ist da vielleicht auch etwas eingraviert?« »Ich hab den Deckel nicht geöffnet, nur die beiden Fundstücke sichergestellt und eingetütet. So will es die Vorschrift, Guido.«
»Ich weiß, ich weiß. Entschuldige, Ettore.« Brunetti wartete, bis sein Zorn abgeklungen war, und fragte dann: »Wie kam es deiner Meinung nach zu den Verletzungen an ihren Händen?«
»Spekulationen gehören nicht in meinen Aufgabenbereich. Wie du sehr wohl weißt.«
»Was meinst du, wie sie sich die Verletzungen an den Händen zugezogen hat?«, wiederholte Brunetti ungerührt. Diesmal erfolgte Rizzardis Antwort so prompt, als hätte er sie sich vorab zurechtgelegt. »Die Spurenlage deutet darauf hin, dass sie an irgendwelchen Ziegeln - wahrscheinlich Terrakotta - abgerutscht ist. Und zwar über eine ziemliche Distanz, denn ihre Jacke ist vorn völlig durchgescheuert. Zwei Knöpfe fehlen. Die blanke Stelle vorn an ihrem Rock habe ich ja schon erwähnt.«
»Demnach ist sie auf dem Bauch gerutscht?« »Sieht ganz so aus. Angenommen sie fiel von einem Dach, dann wäre es nur natürlich, dass sie versucht hätte, sich an den Ziegeln festzuklammern. Dabei könnte sie sich die Handflächen aufgeschürft und die Nägel eingerissen haben.«
Wieder wartete Brunetti. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Rizzardi noch endlos Indizien dafür benennen können, dass das Mädchen von einem Dach oder einer Terrasse gefallen war. Ihm war jeder Aufschub recht, solange er sich nur nicht mit jenen anderen Spuren
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