Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
»Den Besitzer von Uhr und Ring aufspüren. Und wenn wir ihn haben, reden wir mit ihm.«
»Ich geh runter und frage Foa wegen der Gezeiten«, sagte Vianello und machte sich unverzüglich auf den Weg.
16
V ianello war schnell zurück, denn Foa hatte gar keine Karte konsultieren müssen: Wenn das Mädchen irgendwann um Mitternacht ins Wasser geraten und vor neun Uhr morgens in Höhe des Palazzo Benzon aufgefunden worden sei, dann habe sich der Sturz vermutlich entlang des Rio di Ca' Corner oder am Rio di San Luca ereignet, am ehesten aber am Rio di Ca' Michiel, der ja direkt an dem palazzo vorbeiführe. Eine größere Strecke hätte die Leiche bei dem niedrigen Wasserstand in der fraglichen Nacht kaum zurücklegen können. Auch dass die Tote, wenn sie keine sichtbaren Verletzungen aufwies, in das verkehrsreiche Zentrum des Kanals geraten oder von San Polo aus angeschwemmt worden sei, war nach Foas Meinung auszuschließen.
Als Vianello fertig war, erschien auch schon Pucetti mit weiteren Fotos und einem Kuvert, das Ring und Taschenuhr enthielt. »Bocchese hat nur ein paar verwischte Spuren sichergestellt, die wahrscheinlich von dem Mädchen stammen. Sonst nichts.«
Brunetti klappte den Ordner mit den Fotos auf und sah erleichtert, dass er nur Aufnahmen von Kopf und Gesicht des Mädchens enthielt. Die Haare hatte man ihr zurückgekämmt, ein Bild zeigte sie mit offenen Augen, Augen von einem tiefen Smaragdgrün. Dieses Kind war nicht nur um viele Lebensjahre, sondern auch um eine große Schönheit betrogen worden. Als Nächstes klaubte Brunetti Ring und Uhr aus dem Kuvert. Der Ring, ein breites Goldband, am Rand ziseliert, gehörte der Größe nach wohl einem Mann. »Handarbeit, würde ich sagen«, mutmaßte Vianello.
Der Ispettore hielt den Ring ans Licht und betrachtete prüfend die Innenseite. »GF - GV, 25.10.84.«
Ein paar Körnchen von Boccheses schwarzem Rußpulver waren auf Brunettis Schreibtisch gerieselt. »Wie geht die denn auf?« Pucetti wies mit dem Kopf auf die Taschenuhr, rührte sie aber nicht an.
Stattdessen nahm Brunetti die Uhr in die Hand und drückte oben auf den Knopf. Nichts geschah. Erst als er am Rand ein winziges Scharnier entdeckte, gelang es ihm, den Deckel mit einem Fingernagel zu öffnen. »Per Giorgio, con amore, Orsola«, war auf der Innenseite eingraviert. Das Datum lautete »25.10.94«.
»Immerhin, zehn Jahre hat diese Ehe schon mal gehalten«, bemerkte Vianello.
»Hoffen wir, dass sie hier geheiratet haben!«, sagte Brunetti und griff zum Telefon. Und wirklich, sie hatten Glück. Die Ehe zwischen Giorgio Fornari und Orsola Vivarini war am fünfundzwanzigsten Oktober 1984 in Venedig geschlossen worden.
Vianello schlug im Telefonbuch unter »F« nach. Ein Giorgio Fornari war rasch gefunden, aber der wohnte in Dorsodura. »Was immer auch passiert ist«, meinte der Ispettore aufblickend, »in Dorsodura war' s nicht, oder?« Bevor einer der beiden antworten konnte, schlug Vianello die letzten Seiten auf und suchte unter »V« »Nichts.«
»Pucetti«, wandte sich Brunetti an den jungen Polizisten, »lassen Sie die Fotos unten rumgehen. Vielleicht haben wir ja Glück, und jemand erkennt das Mädchen. Danach bringen Sie sie zu den Carabinieri - mal sehen, ob die uns weiterhelfen können.« Da die Polizei Aufnahmen festgenommener Kinder ans Innenministerium weiterleiten musste, blieb den Fahndern vor Ort zur Identifizierung von Wiederholungstätern nur das eigene Gedächtnis.
Als der junge Beamte gegangen war, sagte Brunetti: »Da wir sonst keinen Anhaltspunkt haben, schlage ich vor, wir fangen in Dorsoduro an und versuchen raus zukriegen, wie Signor Fornari seine Uhr und seinen Ehering verloren hat. Wenn wir gleich aufbrechen und bei San Marco das Traghetto nehmen, können wir noch vor zwölf dort sein.« Ehe sie die Questura verließen, schlug Brunetti noch schnell in Calli, Campielli e Canali die Adresse nach und machte Fornaris Wohnhaus am Ende der Fondamenta Venier ausfindig.
Als sie den Ponte del Vin erreichten, fanden sie sich plötzlich auf allen Seiten von Passanten eingekeilt, die zur Piazza strebten oder ihnen von dort entgegenkamen. Vom Scheitel der Brücke aus überblickte Vianello das wogende Meer aus Köpfen und Schultern. »Ich kann nicht«, flüsterte er. Woraufhin Brunetti wortlos kehrtmachte und ihn zum Vaporetto-Anleger nach San Zaccaria führte.
Doch vor dem Touristenstrom gab es kein Entkommen: Die Warteschlange am imbarcadero reichte schon bis zur Riva degli
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