Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
einem der Nachbarhäuser ein Fenster öffnete, mithören konnte. Die Frau erkundigte sich mit keiner Silbe danach, wer der Mann sei, der in venezianischem Dialekt zu ihr sprach, sondern gab ihm ohne Zögern Anschrift und Telefonnummer von Giorgio Fornari und seiner Gattin.
»San Marco«, wiederholte Vianello, nachdem sich das Fenster über ihnen geschlossen hatte. Um möglichst rasch zu erfahren, wo genau sie hinmussten, rief er Pucetti an und beauftragte ihn, die Adresse herauszusuchen. In der Zwischenzeit gingen die beiden weiter Richtung Cantinone Storico, wo sie sich ein gutes Mittagessen versprachen.
Als sein telefonino klingelte, blieb Vianello stehen, presste das Handy ans Ohr, murmelte etwas, das Brunetti nicht verstand, bedankte sich kurz bei Pucetti und klappte das Telefon zu. »Offenbar grenzt das Haus hinten an den Rio di Ca' Michiel«, sagte er.
Um keine Zeit zu verlieren, verzichteten die beiden auf Pasta und begnügten sich mit nur einem Gang: Garnelen mit Gemüse und Koriander. Sie teilten sich eine Flasche Pinot Noir von Gottardi und nahmen den Kaffee ohne Dessert. Danach verließen sie das Lokal zwar satt, aber doch nicht wirklich zufrieden. Auf dem Weg zur Accademia sprachen sie bewusst nicht über das, was sie erwartete. In stillschweigender Übereinkunft ignorierten sie die vu cumpra, die mit ihren Waren den Aufgang zur Brücke flankierten, und kommentierten stattdessen den traurigen Zustand der Holzbrücke:
Viele Stufen gehörten dringend ausgebessert, wenn nicht gar erneuert.
»Glaubst du, die Stadt wählt mit Absicht Materialien, die schnell verschleißen?«, fragte Vianello und deutete auf einen Spalt zu ihren Füßen.
»Das besorgen die Feuchtigkeit und Millionen Füße schon von ganz allein«, entgegnete Brunetti, wohl wissend, dass sein Einwand, so berechtigt er war, die andere Möglichkeit keineswegs ausschloss.
Vor dem Paolin, wo die Gäste sich auf der Terrasse die ersten gelati dieses Frühlings schmecken ließen, bogen sie links ab und kehrten durch ein Gewirr von Gassen zum Kanal zurück.
Am Ende einer engen calle, die zum Canal Grande hinunterführte, drückten sie die Klingel mit dem Namen Fornari. »Si?«, meldete sich eine Frauenstimme.
»Bin ich hier richtig bei Giorgio Fornari?«, fragte Brunetti, der diesmal nicht Veneziano, sondern Hochitalienisch sprach. »Ja, da sind Sie richtig. Sie wünschen, bitte?« »Hier ist Commissario Guido Brunetti von der Polizei, Signora. Ich hätte gern Signor Fornari gesprochen.« »Was ist denn passiert?«, erkundigte sie sich nach jener unwillkürlichen Schrecksekunde, die er so gut kannte. »Nichts, Signora. Ich möchte nur mit Signor Fornari sprechen.« »Er ist nicht da.«
»Darf ich fragen, wer Sie sind, Signora?« »Seine Frau.« »Dann könnte ich vielleicht mit Ihnen reden?« »Worum geht es denn?«, erkundigte sie sich mit wachsender Ungeduld.
»Um entwendetes Eigentum.«
Nach kurzem Schweigen entgegnete sie: »Das verstehe ich nicht.«
»Vielleicht könnte ich ja heraufkommen und es Ihnen erklären, Signora«, schlug Brunetti vor. »Also gut.« Gleich darauf wurde die Haustür automatisch entriegelt.
»Nehmen Sie den Fahrstuhl«, erklang die Frauenstimme aus dem Lautsprecher neben ihnen. »Oberste Etage.« Der Aufzug war eine enge, kleine Holzkabine, die der Anschlagtafel nach außer ihnen noch Raum für einen Dritten bot: einen sehr, sehr schlanken Dritten. Auf halber Höhe machte die Kabine plötzlich einen Ruck. Brunetti fuhr überrascht zur Seite und stieß auf zwei finster dreinblickende Männer, die ebenso erschrocken wirkten, wie ihm selbst zumute war. Dann erkannte er sich und Vianello, dessen Blick dem seinen im Spiegel an der Innenwand begegnete.
Die Kabine kam ruckelnd zum Stehen und schwankte noch ein wenig hin und her, bevor Brunetti das Scherengitter zurückschob. Rechter Hand stand in einem Türrahmen eine mittelgroße, mittelgewichtige Frau mit mittellangem Haar von unbestimmter Farbe irgendwo zwischen Rot und Braun.
»Ich bin Orsola Vivarini«, sagte sie, ohne ein Lächeln und ohne die Hand auszustrecken.
Brunetti trat, gefolgt von Vianello, auf sie zu. »Guido Brunetti«, wiederholte er und nannte dann, auf Vianello deutend, auch dessen Namen.
»Kommen Sie ins Arbeitszimmer«, sagte die Frau und geleitete die beiden einen Flur entlang, den ein hohes Fenster mit Blick auf die Gebäude und Dächer am anderen Ufer des Canal Grande in helles Licht tauchte. Auf halber Höhe öffnete Signora Vivarini
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