Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
»Sie sehen so verändert aus, Signorina. Woran liegt das?«
Die Frage kam offenbar völlig überraschend. »Sie haben es bemerkt, Dottore?«
»Ja, natürlich«, antwortete Brunetti, der immer noch im Dunkeln tappte.
Da erhob sich Signorina Elettra, breitete die Arme aus, schwang sie graziös empor, und ehe er sich's versah, ging sie mit vorgeneigtem Oberkörper in Stellung und zielte mit dem rechten Arm auf ihn. »Ich nehme seit kurzem Unterricht«, gestand sie feierlich. Was Brunetti nicht weiterhalf. Unterricht worin: Yoga? Karate? Ballett?
Sie schien ihm seine Ratlosigkeit anzusehen. Lachend beugte sie die Knie, wandte ihm ihr Profil zu und schwang in der Rechten eine unsichtbare Waffe, mit der sie blitzschnelle Stöße in seine Richtung vollführte. »Fechten?«, fragte er.
Falls eine so anmutige Bewegung diesen Namen verdiente, machte sie einen Ausfallschritt und tänzelte mit zwei winzigen Sprüngen auf ihn zu, kollidierte aber im letzten Moment mit der Schreibtischkante.
Plötzlich ging die Tür zu Pattas Büro auf, und der Vice-Questore erschien, in der Rechten einen Ordner, in der Linken ein einzelnes Blatt, dem offenbar seine ganze Aufmerksamkeit galt. Perfekter hätte man eine vielbeschäftigte Führungspersönlichkeit nicht mimen können. Als er endlich aufschaute, war Signorina Elettras Degen verschwunden. »Oh, Vice-Questore, gerade wollte ich zu Ihnen und Commissario Brunetti melden.«
»So So, aha.« Patta musterte Brunetti, unschlüssig, ob er es verantworten könne, ihn zu empfangen und die Pflichten seines Amtes so lange hintanzustellen. »Na schön, Brunetti, kommen Sie rein«, sagte er endlich.
Bevor er in sein Büro zurückging, legte er Signorina Elettra den Ordner auf den Schreibtisch. Das einzelne Blatt behielt er in der Hand. Er ließ die Tür offen zum Zeichen, dass Brunetti ihm folgen solle.
Brunetti beobachtete Patta verstohlen, um abzuschätzen, wie viel Zeit er ihm einräumen würde. Wenn der Vice-Questore sich an den Schreibtisch setzte, bedeutete das normalerweise, dass er es sich bequem machen wollte und bereit war, länger als nur ein, zwei Minuten zuzuhören. Stellte er sich dagegen ans Fenster, dann war er in Eile, und wer bei ihm vorsprach, fasste sich am besten kurz.
Diesmal legte Patta als Erstes das Blatt Papier auf den Schreibtisch, drehte es nach einem Blick zu Brunetti mit der Schrift nach unten und blieb dann mit aufgestützten Händen vor dem Schreibtisch stehen. Das brachte Brunetti in ein strategisches Dilemma: Platz zu nehmen, solange sein Vorgesetzter stand, kam nicht in Frage. Und da Patta seine Position im Raum jederzeit ändern mochte, wusste er auch nicht, wo er sich hinstellen sollte.
Zögernd trat er ein paar Schritte auf Patta zu, der heute einen schiefergrauen Anzug trug, dessen eleganter Schnitt ihn größer und schlanker erscheinen ließ. Auffallend war der kleine goldene Anstecker am Revers - war es ein kleines Kreuz? -, doch Brunetti wollte sich jetzt nicht ablenken lassen. »Ich bin weisungsgemäß raus gefahren in dieses Lager, Vice-Questore«, begann er.
Patta nickte nur. Offenbar gefiel er sich heute in der Rolle des stummen, aber wachsamen Hüters der öffentlichen Sicherheit. »Ein Maresciallo der Carabinieri war dabei und eine Sozialarbeiterin, die Erfahrung hat im Umgang mit den Roma.« Wieder nickte Patta, entweder um Brunetti zu bedeuten, dass er ihm zuhöre, oder um seine politisch korrekte Ausdrucksweise zu würdigen.
»Zuerst wollte der mutmaßliche Anführer uns nicht mit den Eltern sprechen lassen. Aber als er uns nicht abwimmeln konnte, ließ er den Vater kommen, und ich hab ihm gesagt, was passiert ist.« Patta hüllte sich in Schweigen. »Er fragte, woher ich wisse, dass die Tote seine Tochter ist. Da habe ich ihm die Fotos gegeben, und er hat sie der Mutter gezeigt. Sie war« - Brunetti wusste nicht, wie er Patta die Seelenqual der Frau beschreiben sollte - »sie war außer sich vor Verzweiflung.« Weiter fiel ihm nichts ein. Die Fakten hatte er immerhin dargelegt.
»Es tut mir leid«, hörte er Patta zu seinem Erstaunen sagen.
»Was denn, Vice-Questore?«, fragte Brunetti. Witterte Patta womöglich im Nachhinein eine Gelegenheit, sich publikumswirksam in Szene zu setzen, und bereute deshalb, nicht doch selbst ins Lager gefahren zu sein?
»Dass die Frau so leiden muss«, entgegnete Patta schlicht. »Ein Kind zu verlieren - das dürfte nicht sein.« Dann schlug er plötzlich einen unbeschwerteren Ton an: »Und was ist mit
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