Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
man sie eigentlich der Familie übergeben. Aber nun handelte es sich offiziell um einen Unfalltod, und Brunetti wusste nicht, wer dafür zuständig war.
»Würden Sie bei Dottor Rizzardi nachfragen, wann der Leichnam freigegeben wird?« Einen Moment lang erwog Brunetti, die Leiche des Mädchens selbst zu begleiten, aber dazu fehlte ihm denn doch die Kraft. »Eine Mitarbeiterin im Sozialamt, eine gewisse Dottoressa Pitteri - der Vorname ist mir entfallen -, kümmert sich schon seit längerem um die Roma. Sie hat vielleicht eine Idee, was ... also was im Sinne der Familie wäre.« »Sie meinen wegen der Beisetzung?«, fragte Signorina Elettra.
»Ja.«
»Gut, ich werde mich mit der Dottoressa in Verbindung setzen und gebe Ihnen dann Bescheid, Commissario.« »Danke, Signorina«, sagte er und verließ ihr Büro.
23
A uf dem Weg nach oben wäre Brunetti plötzlich am liebsten umgekehrt und hätte sich aus der Questura fortgeschlichen, um mit dem Vaporetto zum Lido hinauszufahren und dort am Strand spazieren zu gehen. So wie er das früher als Schuljunge manchmal getan hatte. Wer würde es bemerken? Wen würde es kümmern? Patta beglückwünschte sich vermutlich zu dem leicht errungenen Sieg über ihn und dazu, den ehrbaren Mittelstand vor einer peinlichen Untersuchung bewahrt zu haben. Und Signorina Elettra war mit der traurigen Aufgabe beschäftigt, herauszufinden, wie man das tote Kind zu seiner Familie zurückbringen konnte.
Kaum dass er an seinem Schreibtisch Platz genommen hatte, griff Brunetti zum Telefon und wählte Signorina Elettras Nummer. »Signorina, der Vice-Questore hatte doch vorhin ein einzelnes Blatt Papier in der Hand. Wissen Sie zufällig, was es damit auf sich hat?« »Nein, Signore«, lautete ihre auffallend knappe Antwort. »Meinen Sie, Sie könnten vielleicht einmal nachsehen?« »Einen Augenblick, ich werde Tenente Scarpa fragen.«
Dann wurde ihre Stimme leiser, weil sie nicht mehr in den Hörer sprach, aber Brunetti konnte dennoch alles verstehen: »Tenente, wissen Sie, was mit dem Kopierer im dritten Stock los ist?« Es folgte ein langes Schweigen, und danach schwoll ihre Stimme an, so als müsse sie eine größere Entfernung überbrücken. »Anscheinend ein Papierstau, Tenente. Würden Sie bitte mal nachsehen?«
»Sie sollten ihn nicht so quälen«, warf Brunetti ein.
»Ich verzichte auf Schokolade«, entgegnete sie schnippisch, »und quäle dafür den Tenente. Auch das ein Hochgenuss, der aber nicht dick macht.« In der Beziehung hatte Signorina Elettra in Brunettis Augen ohnehin nichts zu befürchten. Und auch wenn es ihm nicht zustand, über das Genussverhalten anderer zu urteilen, schien ihm die Art, wie sie Pattas Günstling immer wieder bis aufs Blut reizte, doch weitaus gefährlicher, als hin und wieder ein Stück Trüffelschokolade zu naschen. »Ich wasche meine Hände in Unschuld«, erklärte er lachend. »Auch wenn ich Ihren Mut bewundern muss.« »Ach, er ist bloß ein Papiertiger, Commissario. Sind die doch alle.« »Wer, alle?«
»Na, Leute seines Schlages, die den starken Mann markieren und einem immerzu stumm drohend über die Schulter sehen. Als wollten sie uns gleich in Stücke reißen und sich dann das Fleisch mit unseren Knochensplittern aus den Zähnen pulen.«
Brunetti fragte sich, ob sie die Männer draußen im Roma-Lager wohl auch so einschätzen würde. Aber noch bevor er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, setzte sie hinzu: »Machen Sie sich nur keine Sorgen wegen Scarpa, Commissario.«
»Ich meine ja auch bloß, es wäre klüger, ihn sich nicht zum Feind zu machen.«
Ihre Stimme wurde plötzlich messerscharf: »Wenn es je Spitz auf Knopf stünde, würde der Vice-Questore ihn ohne zu zögern fallenlassen.«
»Wie das?«, fragte Brunetti verblüfft. Seit über zehn Jahren diente Tenente Scarpa dem Vice-Questore nun schon als getreuer Handlanger. Auch er stammte, wie Patta, aus Sizilien und kämpfte mit allen Mitteln für den Aufstieg seines Mentors, während er selbst sich mit den Resten begnügte, die vom Tisch der Mächtigen für ihn abfielen.
»Weil der Vice-Questore weiß, dass er sich auf ihn verlassen kann«, antwortete Signorina Elettra.
Nun war Brunetti vollends verwirrt. »Das verstehe ich nicht«, bekannte er.
»Da er Scarpa hundertprozentig vertrauen kann, könnte er ihn auch bedenkenlos abschieben. Er müsste nur dafür sorgen, dass der Tenente einen besseren Posten bekommt. Bei mir dagegen weiß Patta nicht, ob er mir trauen kann, und darum
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