Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
Die übrigen zerstreuten sich.
Obwohl niemand mehr da war, der sie belauschen konnte, senkte Brunetti die Stimme, als er jetzt zu Steiner trat und sich erkundigte, wie er die Lage einschätze.
Bevor der Carabiniere antworten konnte, drang aus der noch offenen Tür von Rocichs Wohnwagen ein schrilles Wehklagen. Brunetti spähte angestrengt in die Richtung, bis er von einer plötzlichen Bewegung jenseits des Lagers abgelenkt wurde. Das Wehgeschrei hatte die Vögel im Kastanienhain aufgescheucht, die nun rastlos, gleich einer dunklen Gloriole, die Wipfel umkreisten. Das Lamento erscholl bald lauter, bald leiser, brach aber nie ab. Brunetti starrte zu den Baumkronen hinauf, und ihm fiel ein, wie Dante einmal einen Zweig von einem Strauch abgebrochen hatte, der in Wahrheit ein verwandelter Selbstmörder war und ihn schmerzgeplagt anschrie: »Lebt in der Brust dir gar kein Geist des Mitleids?«
Die Polizisten wandten sich schließlich in stillschweigendem Einverständnis wieder ihrem Fahrzeug zu. Steiner und der Fahrer nahmen vorne Platz, und Brunetti wollte eben mit eingezogenem Kopf auf die Rückbank klettern, als ein Knall wie ein Pistolenschuss ihn zurückschrecken ließ. Die Tür von Rocichs Wohnwagen stand sperrangelweit offen.
Die Frau, die im Innern versteckt gelauscht hatte, stürmte heraus und nahm die Stufen wie im Flug, bevor sie unten plötzlich, wie geblendet vom ungewohnten Tageslicht, abrupt stehen blieb. In einer Hand hielt sie den zerknitterten Umschlag, die andere wölbte sich schützend und so behutsam, als fürchte sie etwas zu beschädigen, um die drei Fotos.
Ein Maulwurf, der aus seinem Bau ausgegraben wurde, reagierte ebenso verstört auf das Tageslicht wie sie. Während der ganzen Zeit rissen ihre Wehklagen nicht ab. Plötzlich schleuderte sie den Umschlag von sich, fiel auf die Knie, warf den Kopf in den Nacken und stimmte ein herzzerreißendes Geheul an. Brunetti, der ihr am nächsten stand, sah, wie sich die Nägel der frei gewordenen Hand in ihre Wange krallten. Die Blutspuren, die sie hinterließen, sahen aus wie von einem roten Buntstift gemalt.
Ohne zu überlegen, fiel er ihr in den Arm und zog die Hand weg. Die Frau holte schon mit der anderen Hand aus, um ihn abzuwehren, doch die Fotos hinderten sie daran. Erschrocken taumelte sie zurück, attackierte Brunetti aber gleich darauf mit so heftigen Spucksalven, dass Hemd und Hose im Nu mit Speichel besudelt waren.
»Ihr töten mein Tochter!«, kreischte sie. »Ihr töten meine Kind. In Wasser ihr sie töten.« Brunetti blickte in ihr wutverzerrtes Gesicht und sah, dass er sich geirrt hatte: Die Frau vor ihm war in Wirklichkeit noch jung. Aber das Leben hatte sie gezeichnet und vorzeitig altern lassen. Hinter den hohlen Wangen verbargen sich zahnlose Kiefer, und von den noch vorhandenen Vorderzähnen waren zwei abgebrochen. Um das spröde, trockene Haar hatte sie ein verrutschtes Tuch gebunden; ihr dunkler Teint war fettig und grobporig.
Plötzlich tauchte Dottoressa Pitteri neben ihm auf. Sie beugte sich über die zusammengesunkene Frau und redete begütigend auf sie ein, wobei sie immer denselben Satz wiederholte. Dann fasste auch sie die Frau am Arm und bedeutete Brunetti, dass er sie jetzt loslassen könne.
Brunetti gehorchte, und sobald er seine Hand zurückgezogen hatte, schien die Frau sich ein wenig zu beruhigen. Ihre Schreie verstummten, und während sie einen Arm um ihre Taille schlang, hielt sie die Hand mit den Fotos in sicherem Abstand zum Körper. Schluchzend stieß sie ein paar Worte hervor, von denen Brunetti nicht eines verstand. Schweigend holte Dottoressa Pitteri ein Taschentuch aus ihrer Jacke und drückte es der Frau gegen die Wange. Das Wimmern hielt an, und dazu stammelte die Frau beständig dieselben Worte vor sich hin. Das Taschentuch, das Dottoressa Pitteri auseinanderfaltete, um eine saubere Stelle zu finden, war voller Blutflecke.
Mit einem Mal umschlossen zwei starke Hände Brunettis Oberarme und stießen ihn zur Seite. Er duckte sich und wollte schon in Abwehrstellung gehen, als er sah, dass es der Vater des toten Mädchens war. Während Brunetti sich aufrichtete, trat Rocich zu den beiden Frauen, fasste Dottoressa Pitteri unter den Achseln und hob sie regelrecht vom Boden hoch. Gut einen Meter von seiner Frau entfernt, setzte er sie wieder ab.
Im nächsten Augenblick beugte er sich über seine schluchzende Frau. Er sagte etwas zu ihr, aber sie reagierte nicht, hatte ihn vielleicht nicht einmal gehört
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