Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
Procedere kundig zu machen.«
»Wann hast du mit ihm gesprochen?«, fragte Brunetti. »Gestern Nachmittag.« »Und?«
»Und er ist ein vielbeschäftigter Mann, Guido.« Die wachsende Ungeduld in Rizzardis Stimme ließ Brunetti befürchten, der Doktor, für den der Umgang mit seinen stummen Toten Routine war, könnte ihn mit einem Kalauer wie:
Das Mädchen läuft uns schon nicht weg, abfertigen. Weil ihm das unerträglich gewesen wäre, noch dazu aus dem Munde eines Mannes, auf den er so große Stücke hielt, beendete er hastig das Gespräch: »Gib mir Bescheid, wenn du was hörst, Ettore, ja?« Er legte auf, ohne die Antwort abzuwarten.
Nachdem er eine Weile reglos dagesessen hatte, nahm Brunetti Zuflucht zu den Akten auf seinem Schreibtisch. Er las ein ums andere Mal die Worte, die auf den Seiten standen, und wartete, dass sie einen Sinn ergäben. Doch es blieben Buchstaben und Wörter auf Papier und sonst gar nichts. Sein Blick schweifte zur Wand, aber die gab auch nicht mehr her als die Akten. Er kannte Richter Giacomini: ein gewissenhafter Mann, er würde wissen, was zu tun war.
Während Brunetti so vor sich hin grübelte, fiel ihm der Arzt ein, der das Mädchen behandelt hatte: Dottor Calfi. Rocich war so überrumpelt gewesen, dass er sich auf die Schnelle bestimmt keinen falschen Namen hatte ausdenken können. Brunetti telefonierte nach unten zum Mannschaftsraum und verlangte Pucetti: »Besorgen Sie mir bitte Adresse und Rufnummer von einem gewissen Dottor Calfi. Vornamen weiß ich leider nicht. Hat eine Praxis in der Nähe des Roma-Lagers bei Dolo.«
Pucetti antwortete mit einem knappen »Jawohl, Commissario« und legte auf.
Brunetti wartete. Er hätte schon längst nach dem Arzt suchen müssen, gleich als die Obduktionsergebnisse vorlagen. Mutmaßlich waren alle beim selben Doktor in Behandlung gewesen: das Mädchen, seine Geschwister, die Mutter, ja vielleicht sogar Rocich selbst. Woher hätte der sonst den Namen gewusst?
Pucetti rief nach wenigen Minuten zurück und gab ihm den Vornamen des Arztes durch: Edoardo, dazu die Adresse in Scorze und die Telefonnummer der Praxis.
Brunetti wählte die Nummer und wurde nach siebenmaligem Klingeln von einer automatischen Ansage aufgefordert, seine Beschwerden zu nennen und Namen nebst Rufnummer zu hinterlassen. »Meine Beschwerden«, murmelte Brunetti, während er auf das Klicken lauschte, mit dem das Gerät auf Aufnahme schaltete. »Hallo, Dottor Calfi, hier spricht Commissario Brunetti von der Questura di Venezia. Ich hätte ein paar Fragen, gewisse Patienten von Ihnen betreffend. Es wäre sehr freundlich, wenn Sie mich zurückrufen würden.« Dann gab er noch seine Durchwahl an und legte auf.
Wer von der Familie Rocich gehörte zu seinen Patienten?
Wusste er, dass das Mädchen Gonorrhöe hatte? Wussten es ihre Eltern? War ihm bekannt, wie und bei wem sie sich angesteckt hatte? Während Brunetti sich seine Fragen für Dottor Calfi zurechtlegte, musste er unwillkürlich an den Hausarzt denken, der seine Familie betreut hatte, als er und Sergio noch klein waren. Er war als Kind nicht oft krank gewesen, aber die wenigen Male, die er das Bett hüten musste, hatte seine Mutter ihn umsorgt und ihm heiße Zitrone mit Honig gemacht. Ein Hausmittel, auf das sie geschworen hatte, bei Erkältungen ebenso wie bei Grippe oder anderen Unpässlichkeiten, und das Brunetti bis auf den heutigen Tag seinen eigenen Kindern verabreichte.
Das Läuten des Telefons riss ihn aus seinen Erinnerungen. Es war Signorina Elettra, die ihm mit kaum verhohlener Verachtung für das dilettantische Sicherungssystem der Schulaufsichtsbehörde mitteilte, beide Fornari-Kinder seien ausgezeichnete Schüler. Der Sohn habe sogar schon die Aufnahmeprüfung für die Bocconi-Universität, eine Elitehochschule in Mailand, bestanden.
Brunetti dankte ihr für die Information und machte sich auf die Suche nach Vianello, der am Vortag im Roma-Lager nicht dabei gewesen war, weil er eine seiner Informantinnen zu einer richterlichen Anhörung begleitet hatte. Der Inspektor begegnete ihm schon im Treppenhaus. »Kommst du mit rauf?«, fragte er.
»Ja«, antwortete Vianello. »Ich möchte doch hören, was du gestern erreicht hast.«
Während sie gemeinsam nach oben gingen, schilderte Brunetti seinen Besuch im Lager bis hin zu dem Anruf bei Dottor Calfi. Vianello, der gebannt zugehört hatte, beglückwünschte ihn zu der Idee mit den Abschleppwagen.
Es schmeichelte Brunetti, dass Vianello neben der
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