Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
eigentlich nur, um zu hören, was sie davon hielt. »Jedenfalls bis gestern nicht. Da habe ich zuletzt mit Rizzardi gesprochen.« »Auf was wartet ihre Familie denn?«
»Weiß der Himmel.« Brunetti seufzte. Ihre Familie! »Und was geschieht nun?«
Brunetti wusste keine Antwort. Die Vorstellung, dass Eltern, die erfahren müssen, dass ihr Kind an einem fremden Ort ums Leben kam, nicht unverzüglich dorthin eilen, überstieg sein Fassungsvermögen. Darum ging es ja auch in Hekubas letzter Klage: »Nun bring ich dich zu Grab, den Jüngeren, / Als kinderloses, heimatloses Weib.« Als er gestern Abend an die Stelle gekommen war, musste er das Buch weglegen, ohne das Stück zu Ende gelesen zu haben.
Es drängte ihn, noch einmal bei Rizzardi nachzufragen, ob die Leiche des Mädchens inzwischen doch abgeholt worden sei. Aber er würde sich gedulden müssen: Um diese Zeit war niemand mehr im Leichenschauhaus, und privat wollte er den Pathologen nicht behelligen. »Guido?«, fragte Paola. »Ist dir nicht gut?«
»Doch, doch«, versicherte er, bemüht, den Gesprächsfaden wiederzufinden. »Ich muss nur immerzu an das Mädchen denken.« Bisher hatte er noch nicht den Mut gefunden, ihr zu sagen, dass das Kind ihm auch im Traum erschien.
»Was passiert ...«, begann Paola zögernd. »Wenn?« »Wenn wirklich niemand sie abholen kommt?«
»Ich weiß es nicht«, gestand er. Es hatte schon Fälle gegeben, wo eine Leiche aus dem Wasser geborgen, aber nicht mehr identifiziert werden konnte. Dann kümmerte sich die Stadt um die Beisetzung, und hoffend, dass der oder die Tote katholisch gewesen sei, ließ man über dem namenlosen Leichnam eine Messe lesen - vielleicht auch in der zusätzlichen Hoffnung auf ein kleines bisschen Trost.
Hier dagegen hatte man sowohl die Identität der Toten ermittelt als auch ihre Familie ausfindig gemacht, und trotzdem erhob niemand Anspruch auf die Leiche. Brunetti hatte keine Ahnung, was in so einem Fall vorgesehen war, ja ob es dafür überhaupt irgendwelche Richtlinien gab. Was er bezweifelte, denn darauf, dass Menschen ihre Toten einfach im Stich ließen, kam vermutlich kein noch so herzloser Staat. Auch die Konfession des Kindes war ungeklärt. Brunetti wusste, dass Muslime ihre Toten unverzüglich beisetzten, und auch nach christlichem Ritus wäre die Zeit der Aufbahrung inzwischen abgelaufen. Rocichs Tochter aber lag immer noch in ihrem Kühlfach im Leichenschauhaus der Klinik.
Brunetti stellte sein Glas auf den Tisch und erhob sich. Er war auf einmal sehr müde. »Wollen wir schlafen gehen?« Paola stimmte zu und streckte ihm die Hand entgegen, um sich aufhelfen zu lassen. Brunetti wunderte sich, denn das hatte sie noch nie gemacht. »Ja, du bist mein Beschützer, Guido.« Für gewöhnlich sagte sie so etwas nur im Scherz, aber heute Abend war es offenbar ernst gemeint. »Wovor?«, fragte er und zog sie an sich.
»Vor meiner Angst, dass alles hoffnungslos verfahren ist und wir alle am Abgrund stehen«, erwiderte Paola ruhig. Dann führte sie ihn ins Schlafzimmer.
Am nächsten Morgen in der Questura rief er als Erstes Rizzardi an und erkundigte sich nach der Leiche des Mädchens. »Die ist noch da«, antwortete der Gerichtsmediziner. »Eine vom Sozialamt hat mir telefonisch mitgeteilt, sie seien nicht zuständig. Wir müssten uns schon selber kümmern.« »Was heißt das?«
»Nun, wir haben erst mal die Polizei in Treviso verständigt. Und die wollten jemanden zu den Eltern ins Lager schicken.« »Ja, aber ist das auch tatsächlich geschehen?«, fragte Brunetti. »Verbindlich weiß ich nur, dass wir - also die Klinikverwaltung - den Eltern schriftlich mitgeteilt haben, wo sich die Leiche des Kindes befindet und dass sie sie hier abholen können.« Nach einer kurzen Pause setzte der Doktor hinzu: »Wir haben ihnen auch den Namen der Firma angegeben, die das in der Regel übernimmt.«
»Was übernimmt?« »Den Totentransport.« »Oh.« »Ja, erst per Boot zum Piazzale Roma und von dort im Leichenwagen zum jeweiligen Zielort auf dem Festland.«
Darauf wusste Brunetti nichts zu sagen.
Endlich kam Rizzardi auf den Punkt. »Aber bis jetzt war niemand da, um sie abzuholen.«
Brunetti starrte auf die Wand seines Büros und versuchte, das Unfassbare zu begreifen. In sein Schweigen hinein sagte Rizzardi: »Soviel ich weiß, hat's so was noch nie gegeben. Ich habe mich an Giacomini gewandt - der einzige Richter, der mir in dem Zusammenhang einfiel -, und er hat versprochen, sich über das
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