Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
Dottore.«
»Die Rocichs gehören seit fast einem Jahr zu meinen Patienten. In dieser Zeit habe ich großen Anteil an der Familie und an den Schwierigkeiten genommen, mit denen sie hier zu kämpfen hat.« Brunetti ahnte, worauf das hinauslief. Dottor Calfi war ein Missionar, und Missionaren auf Kreuzzug kam man nur bei, wenn man ihnen geduldig zuhörte und sie in allem bestätigte. Erst dann konnte man versuchen, sie für die eigenen Zwecke einzuspannen.
»Ich bin sicher, viele Ärzte entwickeln mit der Zeit ein großes Verantwortungsgefühl für ihre Patienten«, sagte Brunetti. Seine Stimme drückte nichts als Wärme und Bewunderung aus.
»Sie haben kein leichtes Leben«, versetzte Calfi. »Nie gehabt.«
Brunetti antwortete mit teilnahmsvollem Gemurmel. Nun schilderte Calfi ausgiebig die Schicksalsschläge der Rocichs, so wie man sie ihm aufgetischt hatte. Demnach waren alle Familienmitglieder irgendwann brutal behandelt worden. Der Ehefrau hatte die Polizei in Mestre einmal ein blaues Auge verpasst und ihr Würgemale am Hals beigebracht. Die Kinder hatte man in der Schule so schikaniert, dass sie sich nicht mehr hintrauten. Signor Rocich fand, trotz aller Bemühungen, keine Arbeit.
Als Calfi geendet hatte, fragte Brunetti: »Wie hat das Kind sich angesteckt, Dottore?« Seine Stimme war voller Besorgnis und Mitgefühl.
»Sie wurde vergewaltigt!«, stieß Calfi so empört hervor, als hätte Brunetti versucht, es zu leugnen oder sei gar selbst der Mittäterschaft verdächtig. »Sie war eines Tages gegen Abend auf dem Rückweg ins Lager, als ein Mann in einem dicken Auto ihr anbot, sie mitzunehmen. So hat sie es zumindest ihrem Vater erzählt, von dem ich die Geschichte habe.« »Verstehe«, murmelte Brunetti, zutiefst betroffen.
»Auf dem Weg zum Lager hat der Mann dann plötzlich die Straße verlassen und sich an ihr vergangen«, fuhr Calfi wutentbrannt fort.
»Hat die Familie Anzeige erstattet?«, fragte ein nicht minder zorniger Brunetti.
»Wer hätte ihnen wohl geglaubt?«, gab Calfi angeekelt zurück.
Ja, wer schon, dachte Brunetti, laut aber sagte er: »Wahrscheinlich haben Sie recht, Dottore. Und wann haben die Eltern das Mädchen zu Ihnen gebracht?«
»Erst Monate später«, entgegnete der Arzt. Bevor Brunetti nachhaken konnte, fuhr er fort: »Sie hat sich zu sehr geschämt.
Erst als die Symptome nicht mehr zu ignorieren waren, stimmte sie einer Untersuchung zu.«
»Verstehe, verstehe«, murmelte Brunetti und schickte ein hörbar geseufztes »Furchtbar!« hinterher. »Ich freue mich, dass Sie es so sehen«, sagte der Doktor. Brunetti fand die ganze Sache tatsächlich furchtbar, wenn auch vielleicht nicht aus den gleichen Gründen wie Calfi. »Ist einem der anderen Kinder etwas Vergleichbares zugestoßen?«, fragte Brunetti.
»Was meinen Sie mit ›vergleichbar‹?«, herrschte der Arzt ihn an.
Brunetti, der vor Begriffen wie Vergewaltigung oder Geschlechtskrankheit zurückscheute, sagte ausweichend: »Übergriffe seitens der Anwohner aus der Gegend. Oder«, wagte er einen Schuss ins Blaue, »gar der Polizei?« Er spürte fast, wie diese letzten Worte Calfi besänftigten. »Ist schon vorgekommen, allerdings kühlt die Polizei ihr Mütchen wohl lieber mit Gewalt gegen Frauen«, sagte der Arzt, so als hätte er ganz vergessen, dass er mit einem Polizisten sprach.
Brunetti beschloss, das Gespräch zu beenden, solange es noch so einvernehmlich verlief. Also dankte er dem Doktor für seine Hilfe und die erteilten Auskünfte.
Man verabschiedete sich mit gegenseitigen Höflichkeitsbezeugungen. »Gewalt gegen Frauen«, wiederholte Brunetti für sich, bevor er den Hörer auflegte.
Nun blieben ihm nur noch die Fornaris. Er wusste, dass es klüger wäre, Patta oder vielleicht sogar den zuständigen Untersuchungsrichter entscheiden zu lassen, ob ein zweiter Besuch im Hause Fornari angezeigt sei. Aber er redete sich ein, dass es ihm ja gar nicht so sehr um ein Verhör der Familie ging als darum, zu klären, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, dass das Kind durch einen Sturz von ihrem Dach den Tod gefunden hatte. Signor Fornari dürfte inzwischen von seiner Russlandreise zurück sein: Brunetti war gespannt, ob er sich ebenso wenig wie seine Frau für das Zigeunermädchen interessierte, dessen Leiche in unmittelbarer Nähe ihres Hauses aus dem Kanal geholt worden war.
Während Brunetti sich auf dem Weg entlang der Riva degli Schiavoni zwischen den Menschenpulks durchschlängelte, die in seine Richtung
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