Bruno Chef de police
bleibt nur die große Pause. Ich muss ein paar Versicherungspapiere meines Vaters unterschreiben und dann sofort wieder zurück in die Schule. Trotzdem, schön, dich zu sehen.«
»Gib mir zehn Sekunden, Momu. Ich möchte dir ein Foto zeigen.« Bruno holte das Fax von seinem Schreibtisch. Viel versprach er sich nicht davon, aber da Momu schon einmal da war...
»Wo zum Teufel hast du das denn her?«, fragte Momu, sichtlich perplex. »Das ist mein Vater als junger Mann. Oder aber sein Zwilling. Was für Namen stehen da?« Er setzte seine Lesebrille auf. »Hussein Boudiaf, Massiii Barakine und Giulio Villanova. Die Boudiafs sind mit uns verwandt. Vielleicht nur eine Familienähnlichkeit, aber die ist verblüffend. Und Barakine - den Namen habe ich auch irgendwann einmal gehört. Villanova war der Trainer; von ihm hat mein Vater viel erzählt. Aber dieser Hussein Boudiaf, ich könnte schwören, dass mein Vater so als junger Mann ausgesehen hat.«
Bruno öffnete seine Post und seufzte. Er hatte wieder einmal anonyme Briefe vor sich liegen, drei an der Zahl, Vorwürfe und Beschwerden über irgendwelche Nachbarn. Wie überall gab es auch in Saint-Denis Anwohner, die offene Rechnungen zu begleichen versuchten, indem sie andere anschwärzten. Für gewöhnlich trudelten solche Briefe beim Finanzamt ein, aber manchmal eben auch in der Polizeistation. Der erste Brief stammte von einer älteren Dame, die sich über das »sittenwidrige Benehmen« mancher jungen Frauen beklagte. Bruno kannte die Absenderin. Es war Pater Sentouts ehemalige Haushälterin, die anscheinend hin- und hergerissen war zwischen religiöser Bigotterie und Eifersucht. Im zweiten Brief beschwerte sich jemand über einen Nachbarn, der angeblich ohne Bauerlaubnis in seiner alten Scheune ein Fenster einbauen ließ, um von dort, wie es hieß, auf der Lauer liegen und die Anwohner bespitzeln zu können.
Ernster nahm Bruno den dritten Brief. Darin ging es um den unverbesserlichen Trunkenbold Léon, dem sein Job im Vergnügungspark gekündigt worden war, weil er Königin Marie-Antoinette falsch unter die Guillotine gelegt hatte, so nämlich, dass ihr nicht nur der Kopf, sondern der gesamte Oberkörper abgetrennt worden war. Zum Entsetzen der Zuschauer war Léon dann auch noch in volltrunkenem Zustand über der zweigeteilten Puppe kollabiert. In dem Brief nun wurde berichtet, dass Léon
au noir
arbeitete, und zwar für eine englische Familie, die eine alte Ruine gekauft und ihn engagiert hatte, sie zu renovieren - gegen Bares, an der Steuer vorbei und ohne Versicherung.
Bruno überlegte. Wen sollte er nun warnen? Léon, der wahrscheinlich auch beim Finanzamt verpfiffen werden würde, oder die Engländer davor, dass sie ihr Geld zum Fenster hinauswarfen? Er würde wohl mit beiden Seiten reden müssen und den Engländern erklären, dass es für sie nach hiesiger Rechtslage auch nicht viel teurer wäre, eine offiziell angemeldete Halbtagskraft zu beschäftigen. Léon hatte eine Familie zu ernähren. Umso wichtiger war es, dass er keine krummen Geschäfte machte und ordnungsgemäß versichert war. Bruno merkte sich die Adresse, wo Léon angeblich arbeitete: weit außerhalb in der winzigen Ortschaft Saint-Félix, wo am frühen Morgen der Diebstahl mehrerer Käselaiber gemeldet worden war.
Bruno nahm sich noch einmal den zweiten Brief vor, die Beschwerde über den geplanten Einbau eines anstößigen Fensters. Auch dieser Fall spielte sich in Saint-Félix ab. Eine erstaunliche Kriminalitätsrate für ein 24-Seelen-Dorf. Seufzend sammelte Bruno Schirmmütze, Handy und Notizblock ein, steckte sich eine Broschüre über die rechtmäßige Anstellung von Teilzeitkräften in die Tasche und machte sich auf den Weg. Er war schon im Treppenhaus, als ihm einfiel, dass er auch seine Kamera brauchen würde, um ein Foto von dem Fenster zu machen. Also kehrte er ins Büro zurück und ertappte sich bei dem Gedanken, dass Isabelle wahrscheinlich nicht besonders beeindruckt wäre, wenn sie wüsste, wie er normalerweise seine Tage verbrachte.
Der Einsatz in Saint-Félix kostete ihn geschlagene drei Stunden. Die Engländer sprachen so gut wie kein Französisch, und sein Englisch war kaum der Rede wert. Trotzdem gelang es ihm, sie davon zu überzeugen, dass es unverzichtbar war, Léon ordnungsgemäß zu entlohnen. Inwieweit er diesen Lohn auch tatsächlich verdiente, stand auf einem anderen Blatt. Der Bauherr des störenden Fensters war nicht zu Hause. Bruno machte Fotos und setzte
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