Buch des Flüsterns
waren. Trotzdem sollte das Urteil noch auf eine Weise vollstreckt werden, die von der Geschichte unterschiedlich gewertet, jedoch von den bei Misak Torlakian Sitzenden und seinen Erzählungen über die Massaker von Trapezunt Lauschenden für einen Akt der Gerechtigkeit gehalten wurde.
Mit der Vorhut der russischen Truppen kam Misak Torlakian als Erster an und trotzdem zu spät. In Trapezunt hatte er außer zu klagen oder sich an jedem, der seinen Weg querte, blind zu rächen, nichts mehr zu tun. Und da er sich weder für das eine noch für das andere entschied, blieb ihm nichts weiter übrig, als in der Umgebung nach Überlebenden zu suchen. Die Konvois waren am 25. Juni losgezogen, also konnte er sie nicht mehr einholen. Das Erste, was ihm angesichts der stillen Straßen, der Häuser mit den blinden Fenstern und des Brandgeruches, den der Wind nicht hatte verstreuen können, der niedergerissenen Häuser und des Aasgestanks in den Sinn kam, war, seine Familie zu suchen. Wir begleiten Misak Torlakian auf seinem Ritt in sein Dorf, das etwa zehn Kilometer weiter südlich liegt, fast schon am Fuß der Berge. Wie die Trompetentöne, welche die alten Leute meiner Kindheit in ihrer Kindheit an den verschiedensten Orten die gleichen Gefahren verkünden gehört hatten, war das, was sie ihr gesamtes Leben begleitete, die Suche. Nicht die nach dem Glück oder der Rettung des eigenen Lebens, sondern die Suche der einen nach den anderen. Seit den Vernichtungsaktionen und den Vertreibungen des Jahres 1895 und vor allem des Jahres 1915 ist ein Jahrhundert vergangen, aber es gibt immer noch welche, Enkel oder Urenkel, die sich gegenseitig suchen. Die Väter und Brüder suchten ihre Töchter und Schwestern in den Harems, Eltern suchten ihre Kinder in Waisenhäusern, Ehemänner fragten nach ihren Frauen in den Webereien von Aleppo und Damaskus, wo Hunderte Frauen zur Zwangsarbeit eingesetzt worden waren, Briefe überquerten die Welt, angsterstickte Fragen wurden auf Schiffsdecks geflüstert, in den Lagern der Überlebenden, verzweifelte oder resignierte Anzeigen erschienen in den armenischen Zeitungen aller Kontinente. In meiner Familie gab es viele, die sich gegenseitig suchten, manchmal fanden sie sich über Tausende Kilometer hinweg, manchmal aber auch nicht. Hunderttausende Familien hatten jemanden zu suchen; ein Volk, das sich sucht, die einen die anderen, nach so viel Unglück; und deshalb hatte es selten die Ruhe, sich selbst wiederzufinden.
Das Bild dessen, der am Ortseingang angesichts des zerstörten Dorfes anhält, kennen alle Geschichten, die zur Kaffeezeit von den alten Leuten meiner Kindheit erzählt wurden, die sich in die Berge zurückgezogen hatten und in der zweiten Hälfte des Jahres 1919 in ihre Geburtsorte zurückgekehrt waren. Bis auf ein paar Einzelheiten ähneln sich diese Geschichten übrigens so sehr, dass ich nun, da ich von der Rückkehr von Misak Torlakian berichte, den Eindruck habe, alle Geschichten gleichzeitig zu erzählen. Lediglich, wie schon gesagt, das Detail. Misak Torlakians Geschichte hat noch etwas mehr, das die meisten anderen Geschichten nicht haben oder nicht mit solcher Intensität erfassen: den Hass. Misak Torlakians Geschichte ist nicht die Geschichte einer Existenz, sondern eher die eines Gefühls. Der Hunger nach Rache. Die Missachtung jedweder Vorsicht, unüberlegte Gesten. Beispielsweise jene vom Nachmittag des 14. Dezember 1915. Misak ging schwankend durch die Gassen des Dorfes, er wollte an den Toren stehen bleiben und rufen, aber er sah, dass es sinnlos war. Ihr Haus war durchstöbert worden, die Türen waren aus den Angeln gerissen, die Kissen aufgeschlitzt, die Fußböden herausgerissen, die Tongefäße zerschlagen. Die hier etwas gesucht hatten, haben sich nicht beeilt, sie hatten Zeit genug, fürchteten sich nicht, denn die Eigentümer konnten nicht mehr zurückkehren. Wahrscheinlich fuhr ihm der Hass in die Mundwinkel, als er das Zimmer seines kleineren Bruders und seiner Schwester betrat, als er die zerstörten Betten sah, das durcheinandergeworfene Bettzeug und die zerschlagenen Spielsachen. Misak sprang aufs Pferd und galoppierte ohne Unterbrechung zwei Tage und Nächte, bis er bei den Passstraßen die sich zurückziehende türkische Armee eingeholt hatte. Dies waren die Orte, die er am besten kannte. Er folgte den Truppen mit dem Schritt einer Bestie. Als er den günstigsten Augenblick gekommen sah, sprang Misak im Schutze der Dunkelheit aus seiner Lauerstellung dem
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