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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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Fortschritt«, einstimmig des Massenmords an den Armeniern für schuldig. Zum Tode verurteilt wurden: Talaat Pascha, ehemals Großwesir, Enver Pascha, ehemaliger Kriegsminister, Djemal Pascha, ehemaliger Marineminister, und Dr. Nazîm, ehemaliger Erziehungsminister und Gründer der Spezialorganisationen. Zu ihnen gesellten sich in zwei separaten Prozessen, welche die Massaker in den Wilajeten Trapezunt und Kharput betrafen, Djemal Azmi, Wali von Trapezunt, und Behaeddin Șakir. Als jedoch Kemal Pașa Atatürks Revolution begann und der durch die Niederlage im Krieg schwer getroffene türkische Nationalismus wieder angefacht wurde, ließ der Eifer der Richter am Militärgericht nach. Am 9. Februar 1920 hat das Militärgericht Oghuz Bey lediglich zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Dabei war Oghuz Bey derjenige, der am 24. April 1915 die Entführung einer großen Zahl armenischer Intellektueller aus der Hauptstadt des Reiches und die Ermordung der meisten von ihnen, darunter auch von Daniel Varujan, dem erst 31-jährigen, bedeutendsten Dichter der Armenier, angeführt hatte. Dann endeten die Prozesse. Vor dem Hintergrund des Friedensvertrages von Sèvres, der den Anschluss der östlichen Provinzen des Osmanischen Reiches an die junge Republik Armenien vorsah, loderten bei den politischen Führungspersonen und in der Armeespitze die antiarmenischen Gefühle wieder auf.
    Von den Todesurteilen für die Anführer der Ittihada haben die neuen Autoritäten kein einziges vollstrecken lassen. Die türkische Regierung hat niemals die Überstellung eines der Verurteilten durch die Länder gefordert, in welche sie geflohen waren, ebenso wenig wie diese Länder, gewöhnlich ehemalige Verbündete der Türkei, die Initiative ergriffen und sie nach Konstantinopel geschickt hätten, damit sie ihre Strafe ereile.
    Als ich zum ersten Mal die Aufzeichnungen meines Großvaters durchgeblättert habe, über die er sich nachts manchmal mit seinem Schwager Sahag Șeitanian beugte, der auch mein Taufpate und unser Nachbar war, habe ich kaum etwas verstanden. Da gab es ein paar vergilbte Blätter zwischen Pappdeckeln, die am Rande mit einer dünnen Schnur vernäht waren. Man konnte sehr wohl erkennen, dass Einband und Blätter dergestalt gebunden worden waren, dass sie lange hielten. Das ganze Heft war mit armenischen Buchstaben beschrieben, außer den Jahreszahlen, die nicht armenisch transkribiert worden waren, sondern in arabischen Zahlen dastanden. Auf den Umschlag war mit dicker Feder und in Großbuchstaben »Nemesis« geschrieben worden. Ich kannte niemanden und auch keinen Gegenstand, der diesen Namen trug. Und weil ich das Heft in einem Moment, da Großvater den Schrank am Kopfende seines Bettes unverschlossen gelassen hatte, in aller Eile durchgeblättert hatte, fürchtete ich mich, danach zu fragen. Vielleicht war es sogar ein Name, aber er klang nicht armenisch. Die Antwort fand ich in einem Larousse, den Onkel Kevork aus Los Angeles geschickt hatte: »Nemesis – Göttin der Rache bei den alten Griechen ...«
    Das Heft enthielt ein paar mit der Feder beschriebene Seiten, Namen, die in zwei Spalten untereinander eingetragen worden waren, und zwischen diesen, je zwei Namen verbindend, standen Jahreszahlen. Die Namen sagten mir nichts, aber die in der ersten Spalte klangen seltsam und endeten alle mit dem Beiwort »Pascha«. Dann gab es noch Pfeile über den Jahresangaben, die auf andere, diesmal armenische Namen verwiesen: Talaat Pascha – 15. März 1921, Berlin – Solomon Tehlirjan. Said Halim Pascha – 6. Dezember 1921, Rom – Arșavir Șiraghian. Djemal Pascha – 25. Juni 1922, Tiflis – Stepan Dzaghighian. Behaeddin Șakir – 17. April 1922, Berlin – Aram Yerganian / Arșavir Șiraghian. Djemal Azmi – 17. April 1922, Berlin – Aram Yerganian / Arșavir Șiraghian. Fath Ali Khan Khoiski – 19. Juni 1920 – Aram Yerganian. Bahbud Khan Djivanșir – 18. Juli 1921, Konstantinopel – Misak Torlakian.
    Einige Jahrzehnte mussten vergehen, bis ich die Beziehungen zwischen diesen Namen begreifen konnte. In gewisser Weise war das Heft mit den Pappdeckeln eine der Personen meiner Kindheit. Großvater holte es erst nachts aus dem verriegelten Schrank, wenn ich schon lange hätte schlafen müssen. Häufig vergessen die Großen auf die Schrecknisse und Neugierde der Kinder: dass sie alle Schubfächer durchwühlen, in sämtlichen Papieren herumstöbern, verstehen, was sie eben mit ihrem Verstand so verstehen können, sich

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