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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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er selbst geworden, riss die militärischen Tressen ab und zog die Schaffelljacke der Partisanen in den Bergen an.
    Wir befinden uns im Januar 1915. Misak Torlakian, aufgewachsen unter Richtern, beschließt nun, selber ein Richter zu werden. Er nistet sich in der Höhle einer Gebirgsklamm ein und wartet unter dem Schutz der verschneiten Gipfel auf den Rückzug der von den Russen geschlagenen türkischen Armeen. Dabei trifft er eine Entscheidung von solcher Kühnheit und einem derartigen Leichtsinn, wie sie nur die Einsamkeit und Jugend einem eingeben können: Er wird Enver Pascha umbringen, den Kommandanten der geschlagenen osmanischen Armee und Verteidigungsminister in der Regierung der Jungtürken. Darauf rechnend, dass Enver Pascha durch die Pässe kommen muss, wenn er nach Trapezunt gelangen will, um von dort über das Meer nach Konstantinopel zu reisen, wartet Misak Torlakian in der Nähe seines Heimatdorfes und beobachtet reglos die Ferne. Die Beharrlichkeit und Ausdauer seines Geistes waren seinen körperlichen Kräften weitaus überlegen, denn seine Beine, erfroren und reglos, wie ich schon sagte, würden gebrechlich werden ohne Aussicht auf Heilung, auch wenn sie auf vielfache Weise mit dem Messer traktiert wurden.
    Wir können nicht wissen, wie die Geschichte des Jahrhunderts verlaufen wäre, wenn Enver Pascha seiner erschöpften und demoralisierten Armee befohlen hätte, den Weg durch die Pässe Richtung Trapezunt einzuschlagen und er sich wenigstens einen Augenblick lang in Schussweite des Gewehrs von Misak Torlakian befunden hätte. Wahrscheinlich aber hat Enver Pascha, der etwas klein geratene Kommandeur, der davon träumte, Napoleon oder Friedrich der Große zu sein, dem jedoch nach der Niederlage bei Sarikamiș, wo von den beinahe hunderttausend Soldaten seiner Armee mehr als vier Fünftel – wie seinem kaiserlichen Idol ein Jahrhundert zuvor – von Typhus und Kälte dahingerafft worden waren, und der nun weitaus weniger hochmütig und leichtsinnig geworden war, beim Anblick der schneebedeckten Gipfel die Gefahr gerochen. Also hatte er beschlossen, auf den Weg über das Meer zu verzichten, zog über Sivas hinab ins Zentrum Anatoliens und hielt sich an die gepflasterten Straßen, mochten diese für die erschöpfte Armee und seine Stiefel mit den hohen, geradezu weibisch hohen Absätzen auch unbequemer gewesen sein, so erstreckten sich an ihren Seiten doch weite und damit mehr Sicherheit gewährende Hochebenen. Sobald er in der Hauptstadt angelangt war – wie die beiden anderen Partner im Triumvirat, Talaat und Djemal, durch die eigene Schwäche gedemütigt und überaus rachsüchtig –, wies er in seinem ersten Befehl an, die Soldaten armenischer Abstammung im gesamten Heer zu entwaffnen und in Arbeitsbataillons einzuweisen.
    Misak Torlakian blieb bis zum Frühlingsbeginn in seinen Gebirgsverstecken. Schließlich hatte er begriffen, dass sein Warten vergeblich war, und er stieg hinab in die Ebene. Dann hörte er von den Deportations- und Hinrichtungsbefehlen, denen die armenischen Männer in den Arbeitsbataillonen zum Opfer gefallen waren. Nun zog er noch einmal über die Berge, ging hinab in den Hafen von Trapezunt und heuerte auf einem Schiff an, das mit Getreide beladen das Schwarze Meer nach Batumi überquerte. Von dort aus machte er sich auf den Weg nach Tiflis, wo er den politischen Gruppierungen der Revolutionären Armenischen Föderation begegnete, die ihn nach Jerewan schickten und ihm empfahlen, Freiwillige zu rekrutieren, um mit ihnen die zaristische Armee zu begleiten und ihr beizustehen bei der Befreiung der Armenier im Osmanischen Reich. Und dies so schnell wie möglich, damit die Absicht der Jungtürken, die Armenier in den östlichen Wilajeten massenhaft zu deportieren und umzubringen, nicht umgesetzt werden kann. Misak Torlakian war in einem Zustand völliger Überreizung, angesichts derer sich der Wahnsinn wie Gemütsruhe ausnahm. Ebenso wie General Dro sollte er sie von diesem Zeitpunkt an stets verspüren, vor allem dann, wenn er andere davon überzeugen musste, an seiner Seite mit in den Tod zu gehen. Er rekrutierte etwa fünfzig Freiwillige, stellte eine Einheit zusammen und begab sich damit in die Vorhut der russischen Truppen. Er wies den Truppen den Weg, warf sich tollkühn in die Kämpfe und betrat als Erster, Anfang Dezember 1915, die Stadt Trapezunt, die von der osmanischen Armee, unfähig, dem russischen Ansturm zu widerstehen, aufgegeben worden war. Er ging ins

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