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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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armenische Viertel, betrat die Kaffeehäuser und suchte die Kirchen auf. Alles war verwüstet, verlassen, die Häuser waren durchstöbert, die Theken umgestürzt, die Kirchentüren aus den Angeln gerissen und die Altäre niedergebrannt worden. Aber nicht durch das Kriegsgeschehen, denn der Rest der gut zehntausend Häuser in Trapezunt war unversehrt. Von zwei, drei zerlumpten Gestalten, die mit verstörtem Blick an den schwarzen, vereinzelt noch dastehenden Mauern im armenischen Viertel entlangschlichen, erfuhr Misak, dass die etwa tausendzweihundert armenischen Familien aus Trapezunt verjagt worden waren. Man hatte sie durch Ausrufer, die von Trommlern mit großen Trommeln begleitet wurden, damit die Massen sie über weite Entfernungen weg hören und sich an den Straßenkreuzungen versammeln konnten, davon in Kenntnis gesetzt, dass die gesamte armenischstämmige Bevölkerung auf Befehl der Hohen Pforte sich mit etwas Wegzehrung und allem, was sie tragen könne, vor das Haus zu begeben habe, um an den Südrand der Stadt geleitet zu werden, wo die Konvois gebildet würden. Wer sich dem Befehl nicht unterwerfe und nach Sonnenaufgang noch im Haus oder an einer anderen Stelle als jener, an der die Konvois aufbrechen, angetroffen würde, werde an Ort und Stelle mit dem Tod durch Erschießen oder, um anderen ein abschreckendes Beispiel zu sein, durch Erhängen auf einem öffentlichen Platz bestraft. Wer seine Kinder türkischen Familien anvertrauen wolle, dürfe dies tun, aber die Kinder würden zuerst der Armee übergeben, die sie anschließend zuteilen würde, damit die neuen Familien den Eltern nicht bekannt würden.
    Die Konvois waren Ende Juni 1915 aufgebrochen. Damit die regulären türkischen Truppen bei der Zusammenstellung und Begleitung dieser Konvois keine Zeit verschwendeten, wurden die Konvois von Spezialtruppen begleitet. Die Idee, eine zusätzliche Gewalt aus irregulären Truppen zu bilden und sie den Armeen des Imperiums beizufügen, stammte von Doktor Nazîm, einem der Führer der Ittihad und – Ironie des Schicksals – zugleich auch Erziehungsminister. Diese Spezialtruppen sollten sich auf die Massen der Deportierten verheerend auswirken. Denn die Rekrutierungen für diese Spezialtruppen, eigentlich Horden, denen der Sinn nach Raub, Vergewaltigungen und Mord stand, waren unter Zuchthäuslern vorgenommen worden, denen man für ihren Eintritt in die Spezialtruppen die Freiheit versprochen hatte. Sie hatten sofort zugestimmt, und wie es anschließend das blutrote Wasser des Euphrat und die Gemetzel an den Rändern der Landstraßen oder die Massengräber in Deir-ez-Zor bewiesen, sind sie den ihnen übertragenen Pflichten eifrig nachgekommen. Und wenn selbst sie von so viel Mord und Vergewaltigungen ermüdet waren und nichts mehr zu plündern war, verließen sie die Konvois schlicht und einfach und überließen sie der Raublust kurdischer Banden, die ihnen in einigem Abstand leise und geduldig gefolgt waren und den Moment abgewartet hatten, an dem sie sich über die preisgegebenen Massen hermachen konnten. Die gleichen Banden, die Seite an Seite mit den in den armen Vorstädten Lauernden die verlassenen armenischen Wohnungen plünderten, die Kirchen profanierten, indem sie die vergoldeten Rahmen der Ikonen oder die silbernen Kerzenleuchter an sich rissen und schließlich, ohne selber so recht zu wissen, warum, oder gerade deshalb, Feuer legten.
    All dies sollte Misak Torlakian aus den gesammelten Zeugenaussagen während des Prozesses erfahren, bei dem eine eigens eingerichtete Instanz des Reichskriegsgerichts 1919 über die Massaker von Trapezunt urteilte. Etwa wie die Männer beim Verlassen der Stadt von den Frauen und Kindern getrennt und die Frauen anschließend ausgeplündert und vergewaltigt worden waren. Wie man einen Teil der Frauen auf Flachkähne verladen, sie anschließend erwürgt und ins Meer geworfen hat. Wie die Mehrheit der in den Konvois Davongetriebenen, noch bevor sie Erzânjan erreichten, unterwegs vor Erschöpfung oder Hungers starben. Das Urteil des Militärgerichts vom 22. Mai 1919 erfolgte einstimmig: Die Anführer der Massaker wurden zum Tode verurteilt. Aber dieses Urteil wurde, wie viele andere Urteile, die das Militärgericht nach dem Krieg verkündet hatte, niemals vollzogen. Denjenigen, die eine Verurteilung erwartete, wurde geholfen, aus dem Reich über das Meer zu entkommen; und zwar in Schiffen, die von den Botschaftern europäischer Staaten zur Verfügung gestellt worden

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