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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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erste Pistole und verletzte sich damit schon beim ersten Mal, als er sie putzte. Doch dies erschreckte ihn nicht sonderlich. An Blut gewöhnt, machte er keinen Unterschied mehr zwischen seinem Blut und dem der anderen, und im Unterschied zu Großvater Setrak, der einem zärtlichen Blutkult anhing, pflegte Misak Torlakian das Blut zu verachten, bis hin zur Verachtung des eigenen Blutes. Großvater Setrak, der selber auch, und zwar am anderen Rand Anatoliens, in seiner Kindheit sehr viel vergossenes Blut gesehen hatte, wärmte und beruhigte das eigene Blut. Misak Torlakian aber war das eigene Blut eine Last. Er stach sich mit der Messerspitze in die von Warzen verdickten Beine, Folgen der endlos langen Tage im Hinterhalt in den Bergen, und schaute, die Stirn in die Handfläche gestützt und den Oberkörper langsam hin und her schaukelnd, wie feine Blutrinnsale über seine Schienbeine liefen und seine Füße wie mit schwarzen Socken bedeckten. Siehst du, sagte er, es ist zu dick und zu schwer. Ich muss stöhnen, damit es rauskommt. Deshalb hatte General Dro so große Macht über ihn, denn im Unterschied zu den anderen, die sich in solchen Augenblicken davonmachten, weil sie ihn für etwas gestört hielten, setzte sich der ansonsten schwer zu besänftigende General hin und schaute ihm schweigend zu, von der gleichen Faszination des Blutes ergriffen. Wenn das Blut die Zehenwurzeln erreichte, trocknete und dunkelte, sagte General Dro: Es reicht, Misak. Torlakian schreckte hoch, schaute sich verblüfft um, als wäre er eben aus dem Schlaf erwacht, und wenn er dann ganz bei sich war, ergriff er mit einer gewissen Traurigkeit die Leinenstreifen, die ihm der General hinhielt, und wickelte sie sich eng vom Knie abwärts um das Bein. Dann erhob er sich mit neuer, unerklärlicher Fröhlichkeit und stampfte, ebenso wie man beim Betreten eines Hauses den an den Stiefeln festgefrorenen Dreck abstampft, mit den blutbedeckten Sohlen auf den Boden.
    Die Verachtung für das Blut gesellte sich, durchaus erklärlich, zur Begeisterung für alles Todbringende. Wie schon gesagt, mit zwölf Jahren bekam Misak von seinem Onkel Manuk Aslanian seine erste Pistole. Es war die einzige geschenkte Waffe, alle weiteren beschaffte er sich selbst, indem er sein eigenes Leben als Preis dafür anbot und unbekümmert veranschlagte, der bezahlte Preis sei geringer als das, was er dafür bekommen hatte. Um die Pistole gegen einen Karabiner und einen Patronengurt eintauschen zu können, wurde er mit vierzehn Jahren zum Kurier der Partisanentruppen in den Bergen. Misak führte die Transporte mit den in Tiflis oder Baku gekauften Waffen über die gebirgigen Grenzen.
    Dann erfüllte sich Misak noch ein Traum, für den er wiederum sein Leben zum Tausch angeboten und sich damit sorglos in Todesgefahr gebracht hatte. Nämlich den, mit der Kanone schießen zu lernen und das Kommando über eine Geschützstellung zu erhalten. Aber auf den engen Pfaden, wo nicht einmal ein Maulesel und ein Mensch nebeneinander Platz fanden, verfügten die Fedajin nicht über so etwas. Da besorgte er sich falsche Papiere, die ihn als Türken auswiesen, und ging mit neunzehn Jahren in die osmanische Artillerie. Die Kommandeure wunderten sich über seine Geschicklichkeit im Umgang mit den Waffen und fragten sich nicht, wo ein junger Mann unter zwanzig diese Fertigkeiten wohl gelernt haben mochte. Und so wurde Misak Torlakian, eine Art Gavroche der antiosmanischen Guerillakämpfe, zum Sergeanten des osmanischen Heeres und befehligte eine Garnison mit fünfundzwanzig Artilleristen im Westfort der Stadt Erzerum.
    Mit dem Ausbruch des Krieges nahm Misak Torlakians Armeespiel ein Ende. Die tragischen Situationen fegten allen Menschen die Masken vom Gesicht, und im Herbst des Jahres 1914 konnte Misak Torlakian sich nicht mehr verstellen. Die ins osmanische Heer einberufenen Armenier wurden entwaffnet und zu Gleisbahnarbeiten geschickt. Viele von ihnen wurden umgebracht, bevor sie an ihren Zielort gelangten. Die anderen wurden einem Vernichtungsprogramm unterworfen. Misak stopfte sich so viele Patronen in den Rucksack, wie er tragen konnte, und verließ, das Gewehr auf dem Rücken, bei Einbruch der Nacht das Fort von Erzerum und kehrte auf nur ihm bekannten Wegen zurück in seine heimatlichen Gefilde. Desertion ist möglicherweise nicht das passendste Wort für seine Tat, denn Misak ist nicht geflohen, dies hatte er nie getan, auch nicht in Extremsituationen, er ist schlicht und einfach wieder

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