Buch des Flüsterns
im Herbst schon den Mantel an, den er im Frühjahr stets später wieder ablegte. Wo es ging, versuchte er sich hinzusetzen, er hörte immer schlechter und hatte gelernt, die Münzen mit den Fingerkuppen zu erkennen, denn seine Sehkraft hatte nachgelassen. Ab und zu fragte er die großzügigeren Kunden und die freundlicheren Kneipenwirte, die ihm von den verbliebenen Resten hin und wieder eine warme Brühe mit Brot hinstellten, oder solche, die er für bedrückter als sich selbst hielt, nach ihren Namen und verfasste, die Nase auf dem Papier, die Feder in mit Wasser verdünnte Tinte getaucht, damit sie länger hielte, ein weiteres Kodizill, durch das er sie in sein Testament mit aufnahm. Das Einzige, was in ihm selbst noch lebendig geblieben war, war sein Testament. Die letzte Veränderung stammt aus dem Jahr 1958, als die anständigeren Kunden und armen Armenier hinzugefügt worden waren. Und die letzte Person war Mariam Aslanian, die Witwe des Pfarrers Dagead, mit ihren vierzigtausend Lei zum Geldwert des Jahres 1938, somit um einiges mehr, als ihre Rente bis zu ihrem Tod ausmachte. An einem Februarabend des Jahres 1959 kam Hartin Fringhian in unseren Hof, wahrscheinlich hat er auch mich gesehen und in seinem erdklumpenrauhen Armenisch aus Erzerum mit mir gesprochen, vielleicht hat er auch in seinen Taschen nach einer geschälten Nuss gekramt, ich weiß es nicht mehr. Von all den Magiern, ich sagte es schon, ist er der einzige, an den ich mich nur aufgrund seiner Geschenke erinnere.
Wie immer, wenn die Armenier meiner Kindheit in entscheidenden Augenblicken ihrer Existenz spürten, dass sie nun widerstehen, bewahren oder erklären müssten, hatte auch Hartin Fringhian seine Gelegenheit, der Fotografie zu begegnen. Wie alle Armenier, die vor den Trennungen, den Kämpfen und Massakern, den Aufbrüchen in Konvois, somit der Begegnung mit dem Tode, das Bedürfnis hatten, sich in eine gewisse Geborgenheit zu begeben, indem sie das fotografieren ließen, was an ihnen lebendig war, bat Hartin Fringhian meinen Großvater darum, ihm ein Foto zu machen. Weil nun der lebendige Teil seines Leibes das Testament war, wollte er sein Testament fotografieren lassen. Und in jener Winternacht des Jahres 1959 fotografierte Großvater Seite für Seite Hartin Fringhians Testament, die Kodizille, die Bekanntmachungen des
Offiziellen Bulletins
, alles. Dann versammelten sie die noch feuchten und klebrigen Blätter, die Großvater sorgsam entwickelt hatte, in einer anderen Mappe, die ihm der Alte zur Aufbewahrung übergab, und Großvater versprach ihm, alles genau so zu tun, wie er es wünschte.
Es war ein strenger Winter, vor allem nach dem Dreikönigsfrost. Nicht so schneereich wie jener des Jahres 1954, als das Brot mit dem Lastkraftwagen herbeigeschafft und von der Straße her direkt aufs Dach geworfen wurde, die Leute stiegen in ihren Häusern auf den Dachboden und stießen mühsam die Dachluke auf, denn außen waren die Häuser bis zur Dachtraufe im Schnee vergraben. Aber Geschäft ist Geschäft, und selbst wenn bei dem Frostgeheul die Kundschaft eher nach Glühwein und Schnaps verlangte denn nach Bier und Gespritztem, setzte Hartin Fringhian seine nächtlichen Runden durch die Kneipen fort und betrachtete tagsüber die Dampfwalzen der Züge, dabei döste er eher vor sich hin, als dass er sein Geschäft betrieb. Abends, den Kopierstift im Mund angefeuchtet, machte er in dem Register mit den senkrecht durch eine Linie unterteilten Blättern seine Buchhaltung, Gewinn und Verlust, dann verglich er das Ergebnis mit den Münzen aus den zweifach überkreuz verknoteten Taschentüchern, die wie Goldbeutel aussahen. Wenn wir berücksichtigen, dass der alte Mann immerzu die gleichen Kleider trug, dass er aß, wo es sich eben ergab, dass er seine Röstpfanne mit auf dem Friedhof gesammelten Zweigen anheizte und seine Ausgaben äußerst gering ausfielen, war das Nussgeschäft des ehemaligen Zuckerkönigs gewinnträchtig. Nicht übermäßig, aber immerhin ausreichend dafür, dass damals, als sie ihn nach einigen Tagen fanden – sie hatten schließlich beschlossen, die Tür aufzubrechen, und fanden ihn mit glasig glänzenden Augen, gekrümmt wie ein degenerierter Vogel –, die Münzen in den verknoteten Taschentüchern für Sarg und Kreuz ausreichten. Und damit Anton Merzian und Krikor Minasian, die sich immerzu stritten, seitdem ihre Schusterwerkstätten Tür neben Tür an der Großen Straße lagen, ausgerechnet dort, am Kopfende von Hartin
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