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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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stattgefunden hat. Das
Buch des Flüsterns
ist kein Geschichtsbuch, sondern eines der Bewusstseinszustände. Deshalb wird es durchlässig, und seine Seiten sind transparent. Gewiss, im
Buch des Flüsterns
gibt es viele genaue Daten, die sogar den Tag, die Uhrzeit und den Ort verzeichnen. Der Stift hat es zu eilig, aber manchmal beschließt er, eine Weile innezuhalten und dabei auf mich und den Leser zu warten, dann geht er etwas mehr ins Detail, als vielleicht nötig wäre. Jedes Wort mehr erläutert, aber gerade deshalb verkleinert es auch.
    Somit würde das
Buch des Flüsterns
all seinen Sinn bewahren, auch wenn wir alle Jahresauflistungen und Tageszählungen daraus strichen. Solche Dinge sind den Menschen zu allen Zeiten und überall geschehen. In seinem Kern bleibt das
Buch des Flüsterns
sich in allen und für alle Zeigen gleich, wie ein Choral von Johann Sebastian Bach, wie ein schmales Tor, durch das die Menschen gebeugt oder aneinandergepresst gehen.
    Vor allen anderen haben sie unseren Dichter ermordet, sagte Șavarș Misakian.
    Der Sitz der Zeitung war wie durch ein Wunder der Zerstörung entgangen. Außerdem hatten alle Armenier der Hauptstadt nach dem am 24. April 1915 begonnenen Gemetzel, als Hunderte armenische Intellektuelle verhaftet und die meisten von ihnen ermordet worden waren, die Rücknahme der Deportationsanordnung für ein Wunder gehalten. Sie sollten das Schicksal aller anderen armenischen Gemeinden teilen, aus ihren Häusern geworfen und aller Güter beraubt werden, und dieses Schicksal sollte sie sogar noch härter treffen, denn im Unterschied zu den Armeniern aus Van, Sivas oder Adana mussten sie in ihren Konvois die gesamte anatolische Hochebene zu den Wüsten Syriens hin überqueren, und wenn sie nicht von den bewaffneten Kriminellentruppen oder den Nomadenbanden massakriert wurden, verhungerten oder erfroren sie in den weitläufigen improvisierten Zeltlagern und in der Wüste, wo sich die Glut des Tages und der Nachtfrost in gleicher Weise in die Opfer teilten.
    Die Zeitung
Azadamard
, das zentrale Presseorgan der Armenischen Revolutionären Föderation, im April 1915 verboten, erschien 1918 unter neuem Namen, der jedoch an den vorherigen erinnerte:
Djagadamard
. Șavarș Misakian war auch früher schon ihr Chefredakteur und soeben zurückgekehrt, um seine Stelle wieder einzunehmen. Er saß abseits in einer Ecke, gehörte nicht zur Spezialmission, aber er verfügte über eine Autorität, die Armen Garo und Șahan Natali nützlich war. Eine Autorität, die ihm nicht seine Statur verlieh, im Gegenteil, seine linke Schulter hing herab und sein Kopf stand schief, er wirkte alles andere denn imponierend. Seine Behinderung aber beeindruckte die anderen, denn sie erinnerte an die Widerstandskraft, mit der er allen Torturen im Militärgefängnis getrotzt hatte, in das er im März 1916 eingekerkert worden war und wo er sich einige Monate später den Händen seiner Folterer entriss und vom dritten Stockwerk in den Innenhof stürzte. Er hatte seine schweren Verletzungen überlebt und war am 27. November 1918, als die Hauptstadt von den alliierten Truppen besetzt wurde, befreit worden, aber sein Leib mit den zerschmetterten Knochen hatte die schiefe Einrichtung der Welt auf sich genommen und erinnerte alle daran, dass er sich von der Todesangst befreit hatte.
    Ihre Feinde wussten, dass sie zunächst ihren Dichter umbringen mussten, wenn sie die Armenier auch als Volk vernichten wollten. Bei einem unterdrückten und bedrohten Volk wird der Dichter zum Anführer. Daniel Varujan war mit den anderen Intellektuellen am 24. April 1915 verhaftet worden. Man hatte ihn an einen Baum gebunden und gesteinigt, dann überließ man seinen Leichnam den Tieren als Beute und den Nachtgeistern. Einige Legenden erzählen, er sei am Leben, und während des Brandes von Smirna, erzählten einige, hätten sie einen Moment lang sein Gesicht in den brennenden Spiegeln gesehen. Das Einzige, was ich an diesen Legenden über die Auferstehung des Daniel Varujan überprüfen konnte, ist, dass man zwar den Ort seiner Leiden kennt – an einen Baumstamm gefesselt, somit an ein lebendiges Kreuz –, nicht aber den Ort, an dem sein Grab sein könnte. Da man den Beweis für seinen Tod besitzt, sogar den Namen seines Henkers kennt, Oguz Bey, Vorsteher von Ceanguiri, aber keine Kenntnis über sein Grab hat, können wir uns vom Gedanken seiner Auferstehung verführen lassen.
    Andere aus der Gruppe der am 24. April Verhafteten,

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