Buch des Flüsterns
vor dem Krieg in mein Testament ein. Jetzt gleich schreiben wir das Kodizill. Zehn Lei, Garbis, verstehst du, nach meinem Tod wirst du reich sein! Ich habe nicht gesagt, dass ich dir das Geld nicht gebe, antwortete Großvater Garabet. Und hör auf, vom Tod zu reden, wir leben und sehen weiter.
Sie lebten und sahen. Hartin Fringhian bestieg wieder den Zug, der nun nicht mehr so überfüllt war, denn nun fehlten die entlassenen Soldaten, die bettelnden Kriegsinvaliden, die Moldauer mit den eingerollten Leinensäcken, mit denen sie in Oltenien Weizen holten, die Flüchtlinge aller Art. Beruhigt erreichte Hartin diesmal den Nordbahnhof, und mit dem verbliebenen Kleingeld nahm er von hier aus einen anderen Zug, der ihn bis nach Chitila brachte. Der Abend war hereingebrochen. Hartin Fringhian ging zur Zuckerfabrik. Er traute sich nicht, nahe heranzugehen, betrachtete sie von weitem und sog den Duft nach gerösteten Zuckerrüben und Melasse durch die Nüstern, dann ging er um die Fabrik herum, dorthin, wo ungepflegt zwar, aber ertragreich, sein Obstgarten mit Nuss- und Apfelbäumen prächtig herangewachsen war. Er legte sich die verfilzten Säcke unter den Kopf und schlief bis zum Anbruch des Morgens. Dann wachte er auf, streckte sich nach der Kühle der Nacht, schüttelte die Säcke aus und begann, die herabgefallenen Nüsse einzusammeln, wählte nur die gesunden aus.
Das vernachlässigte Wunder eines verlassenen, aber ertragreichen Obstgartens ist wie jedes Wunder nur ein scheinbares. Der Hüter, der darauf aufpasste, dass die Arbeiter keinen Zucker stahlen und über den hinteren Zaun warfen, ließ ab und zu einen Blick über den Obstgarten wandern, immerhin konnte er dort statt der Kupferrohre, die mittlerweile grün angelaufen waren, und der grauen Dächer die großen und beinahe runden Kronen der Nussbäume sehen oder die wie Handhöhlen herabgebeugten Kronen der Apfelbäume. Diesmal aber sah er aus den Augenwinkeln heraus Hartin Fringhian, was nicht weiter schwer war, denn der Alte suchte konzentriert im Gras, ohne sich absichtlich zu verbergen, und sein schwarzer Anzug war weithin zu sehen. He, rief der Hüter, der wie jeder auf ein und demselben Posten alt gewordene Mensch versuchte, ein Maximum an Wirkung durch ein Minimum an Aufwand zu erreichen, he, hau ab von dort! Aber er war selber alt, und der, der dort herumsuchte, war seinerseits alt, weder konnte er laut rufen, noch hörte jener gut. Also stand der Hüter mit trötenförmig um den Mund gelegten Handflächen da, während Fringhian ungestört zwischen den feuchten Gräsern nach Nüssen suchte. Also packte der Hüter, immer noch bedacht, sich nicht zu überanstrengen, ein Stück Holz vom Boden und schleuderte es in die Richtung, in die er gerufen hatte. Diesmal hatte er mehr Erfolg, denn der Nüssesammler hielt inne, schaute sich um, wollte die Ursache der Störung sehen, drückte das Kreuz durch und richtete sich auf. Als er die Silhouette sah und merkte, dass jener seine Schultern auf eine Weise streckte, die allen Arbeitern in der Zuckerfabrik wohlbekannt war, erstarrte der Hüter mit der Hand auf einem weiteren Holzscheit. Dann geschah etwas, das jedem Zuschauer unverständlich hätte bleiben müssen. Statt dass der auf frischer Tat ertappte Dieb, also Hartin Fringhian, Reißaus genommen hätte, rannte der Hüter davon und vergaß sogar darauf, das Holzscheit fallen zu lassen. Und wie man ahnen kann, rannte er nicht auf den Nüssedieb zu, sondern zum Verwaltungsgebäude. Fringhian schaute ihm nach, und als er befand, der Hüter sei in ausreichender Entfernung, schüttelte er seinen Sack und beugte sich wieder hinab, suchte weiter im Unkraut. Sodass er etliche Minuten später auch nicht bemerkte, dass eine Gruppe von Leuten auf ihn zukam, einer ging voran, er schien der Chef der anderen zu sein, denn er trug einen marineblauen Anzug und hatte eine Mütze auf, somit der Direktor, wie man zu jenen Zeiten gesagt hätte. Sie blieben ein paar Schritte vor ihm stehen und schauten ihn schweigend an. Hartin Fringhian sah sie erst, als er sich nach einer weiter weg liegenden Nuss ausstreckte. Er schrak auf, reckte sich aus der Hüfte empor, aber nicht so weit, dass er aufrecht gestanden hätte, vielmehr leicht gebeugt, bereit, sich davonzumachen. Sie schauten sich an, erkannten sich, aber sie zögerten, sich anzusprechen. Der ihm der Direktor zu sein schien, bückte sich und hob etwas aus dem Gras auf. Hartin Fringhian kam diese unvermittelte Geste nach dem
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