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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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Schaukelstuhl wiegte und murmelte und wenn Großvater Garabet sich in seinem Zimmer eingeschlossen hatte und mit dem Geigenspiel aufhörte.
    Anfangs irritierte das gestöhnte Weinen die Soldaten, vor allem weil es, von Wind und Wasser aufgegriffen, von überall zu kommen schien. Dann gewöhnten sie sich daran, und der Generalbass erwies sich als verlässlicher denn jeder Wachposten. Solange er gleichmäßig dahinfloss, konnte sich nichts Außerordentliches zutragen. Er wäre abgebrochen, hätten die Leute eine andere Beschäftigung gefunden, als zu sterben oder ihre Toten zu beweinen. Er würde verstummen, sagten sich die Soldaten, lehnten sich die Deportierten auf oder stürben alle. Mit Ausnahme der irre Gewordenen, die zumeist mit einer Kugel in der Brust auf den umliegenden Feldern endeten, rebellierten die Deportierten nicht. Auch starben sie nicht so schnell; anscheinend hatte der Tod, da er nun schon so lange unter ihnen lebte, sie zu lieben begonnen. Obwohl die Lager nach einigen Monaten aufgelöst wurden und die Deportierten in der Zeit alle umgebracht worden waren, ist der Generalbass in Deir-ez-Zor nicht verstummt.
    Dann aber, die Ohren gespitzt auf diesen Ton, der sich sein Bett schuf, breiter als das Bett des Euphrat, machten sich die türkischen Soldaten keine allzu großen Sorgen wegen der Bewachung des Lagers von Deir-ez-Zor. Auf der Süd- und Ostseite war keine Bewachung nötig, denn dort begann die Wüste. Wer auch immer versucht hätte, dorthin zu entkommen, hätte nicht die geringste Überlebenschance gehabt. Dann der Euphrat, der das Lager begrenzte und ebenfalls keine Hoffnung bot.
    Deir-ez-Zor war eine Zeitlang der Zielort aller Konvois, ohne dass die Behörden beschlossen hatten, was weiterhin zu tun sei. Wahrscheinlich hatten sie erwartet, dass die Konvois auf jenen Wegen allmählich verschwänden und Deir-ez-Zor nur noch eine Art Lazarett sein müsste, in dem die dort Angelangten möglichst bald ihren Geist aufgaben, eine Art Hastahane, wie es sie in Tefridje und Lale gab. All den Gelegenheiten zum Trotz, die ihnen überreich angeboten worden waren, hatten sich etliche Hunderttausend Deportierte darauf versteift, weiterzuleben. Mithin schlicht und einfach zu sterben vergessen. Das Lager war längst überfüllt und schwer zu beherrschen, nicht so sehr wegen der Menschen als aufgrund dessen, was sich über diese hermachte, also wegen der Krankheiten und Miasmen. Weil die Autoritäten in der Hauptstadt des Imperiums eine rasche und endgültige Erledigung der Armenierangelegenheit wünschten, wurde Deir-ez-Zor vom Zielort zur Durchgangsstation. Aber nun handelte es sich nicht mehr um den Übergang in ein anderes Lager, sondern um den Übergang zwischen zwei Welten.
    Unter allen Leiden erwies sich der Hunger als das schlimmste, ärger als die Krankheiten oder die Schmerzen. In Ermangelung jedweder Nahrungsquelle und damit abhängig von zufälligen Nahrungsfunden, Gräsern, wildwachsenden Früchten oder wildem Honig bis hin zu toten Tieren, geriet das Lager von Deir-ez-Zor in einen halluzinatorischen Zustand. Die bis auf das Skelett abgemagerten Gestalten schwankten zum Euphrat Wasser trinken und setzten sich anschließend in die pralle Sonne, dabei wiegten sie sich und stöhnten, ernährten sich scheinbar vom Licht, wie die Pflanzen. Manch einer, der vor Hunger jeden Sinn und jedes Gefühl verloren hatte, steckte alles in den Mund, was gerade zur Hand war, sie zernagten Baumrinden, von salzigem Schweiß getränkte Lumpen oder Fäkalien, die wegen des Hungers klein und hart waren wie Ziegenköttel. Nachdem Levon Șașian und die anderen, die an den Massengräbern gearbeitet und versucht hatten, die Toten zu bergen, ermordet worden waren, blieben die Leichen wieder länger in den Zelten liegen. Und wieder tauchten Tote ohne Gesicht auf, solche, denen ein Arm oder ein Bein fehlte. Die Männer, die nun alle paar Tage durch die Zelte zogen und die verstümmelten oder in Fäulnis begriffenen Leichen abholten, konnte nichts mehr erschüttern. Der eine oder andere von ihnen verrichtete diese Arbeit auch gezielt; aus Krähen- und Hyänenjägern waren Totenjäger geworden. Deshalb schauten die Zeltbewohner sie aufmerksam an und vertrauten nicht jedem ihren Toten an.
    Auch erwies sich ihre Aufgabe nicht gerade als einfach. Denn es war schwieriger geworden, die Toten von den Lebenden zu unterscheiden. Die Lebenden lagen stundenlang reglos da und schliefen mitunter mit offenen Augen, sodass sie in der

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