Buch des Flüsterns
danach war, kamen sie, setzten sich auf Schemeln vor die Kreuze und betrachteten den eigenen Namen und das eigene Bild auf dem Stein. Bis sie dann eines Tages vor lauter Hinsehen nicht mehr wussten, wer der eine und wer der andere war, wer von ihnen wirklich noch lebte und wer es sich nur noch vorstellte. Der Tod war eine Weise, die Dinge durcheinanderzubringen, eine Art, den Heimweg zu vergessen. Die Armenier meiner Kindheit lebten lange und starben alle im hohen Alter. Ich glaubte, es ginge gar nicht anders. In ihnen steckte eine Müdigkeit, die sie daran hinderte, sich auszuruhen, und erst recht, zu sterben. Sie waren verwundert angesichts so vieler grausamer Dinge, die sie in ihrer Kindheit gesehen hatten, ohne sie verstehen zu können. Der Tod hat eine eigene, alles bereinigende Weisheit. Die Verwunderung hinderte sie daran, zu sterben.
Trotzdem stellte man meinen Großvätern anfangs je ein Holzkreuz hin. Sie, Garabet Vosganian und Setrak Melichian dachten, solange man lebt, sei man unsterblich. Sie waren sorglos durch die Welt gezogen, gaben sich dem Anschein hin, man könne jederzeit noch etwas richten. So waren eigentlich alle Männer aus meiner Verwandtschaft, und auch ich bin vermutlich nicht anders.
Großvater Garabet besaß ein Foto, das er am liebsten mochte. Es zeigte ihn im Staubmantel mit hochgestelltem Kragen und Hut auf dem Kopf. Als wir sein Holzkreuz durch ein Steinkreuz ersetzten, damit auch er sich in die Reihe der anderen Toten eingliedert, ließen wir über seinem Namen dieses auf ein Keramiktäfelchen gedruckte Foto anbringen. Aber Großvater hat uns getäuscht. Wir sagen: Komm, lass uns bei Großvater vorbeigehn! Wenn ich dann auf dem Friedhof bin und wir uns anschauen, entsteht ein seltsamer Eindruck. Mit seinem Hut auf dem Kopf und dem hochgeschlagenen Mantelkragen sieht es so aus, als komme er auf uns zu. Er setzt mit verschmitztem Lächeln seine Wanderschaft fort, und wir sind auf dieser Welt geblieben, auf die er hie und da zugeht. Dem Leben war es nicht gelungen, ihn zu mäßigen, und dem Tod erst recht nicht. Er überwand sie mit seinem Hut und dem karierten Überzieher – der hochgeschlagene Kragen ist nichts als eine Laune –, denn er scheint in jener anderen Welt genauso wenig zu frieren, wie er es in dieser tat.
Großvater Garabet besaß einen Fotoapparat mit dreibeinigem Stativ. Durch dieses Gerät schaute er sich die Welt an. Und auf uns. Seinerzeit war Großvater ein pfiffiger Fotograf. Zu der Zeit, als es noch kein Papier für Farbfotos gab, malte er seine Fotos mit Pastellfarben aus. Aber am liebsten fotografierte er sich selbst. Sieh, Großvater mit einem Bärtchenpflaster unter der Nase und einer Haartolle in der Stirn, wie er Hitler nachäfft. Hier mit einem schmalkrempigen und schief auf dem Kopf sitzenden Hütchen, lächelnd wie Charlie Chaplin. Doktor Jekyll und Mister Hyde. Lachend, weinend, zusammengekauert oder hüpfend. Sekunde!, rief er. Man fixierte die Stelle, machte einen Kreidestrich. Drückte auf den Knopf und rannte so schnell man konnte hinter den Strich, die Schuhspitzen daran ausgerichtet. Dafür hast du genau drei Sekunden. Dann wird automatisch ausgelöst. Großvater fotografierte sich selbst nur bis zum Kriegsausbruch. Eine Zeitlang war er dazu nicht mehr aufgelegt, dann war er zu langsam geworden, als dass er es in den drei Sekunden noch bis hinter die Kreidelinie geschafft hätte.
Wir haben viele Fotos. Die ältesten sind die schönsten. Meine Urgroßmütter Mariam und Heghine, Urgroßvater mit seinem rauhen Gesicht, den runden Brillengläsern im schwarzen Rahmen, der jugendliche Großvater beim Mandolinenspiel. Und unter die anderen gemengt, die Fotos des Großvaters mütterlicherseits, Setrak. Sieh, dieses Foto ist sogar von 1915. Im Hintergrund kann man ein paar weiße, von der anatolischen Sonne verbrannte Wände erkennen. Die Familie ist um den alten David versammelt, der in seinem Lehnsessel thront. Die Buben, Setrak und Harutiun, sitzen vor seinen Füßen auf dem Boden. Hinter ihm die Frauen. Die beiden Mädchen, Maro und Satenig, festlich gekleidet, mit Bändern im Haar und Kleidern mit weißen Spitzenkragen. Der Fotograf kündigte sich ein paar Tage vorher an. Er zog von Dorf zu Dorf. Die Wohlhabenden erwarteten ihn zuhause und suchten zusammen mit ihm die geeignetste Stelle aus für den Lehnsessel, in den sich der älteste Mann der Familie setzte und um den sich dann alle anderen gruppierten. Alle anderen, die Ärmeren, kamen auf den
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