Buch des Flüsterns
Lieder traurigen Inhalts summten, die sie wiederum in ihrer Kindheit auf den Hochebenen Anatoliens gehört hatten. Schickt das Kind hier weg, sagte manchmal eine der dicklichen und nach Kölnischwasser riechenden Frauen, Tante Paranțem oder Armenuhi. Lass ihn, sagte Großvater. Immer bleibt einer übrig, der erzählt. Vielleicht wird gerade er einmal der Erzähler sein.
Schon als ich noch ein kleiner Junge war, drückte er mir den Stift in die Hand und legte mir weiße Blätter hin, wie man anderen Kindern Süßigkeiten hinlegte oder sie mit Spielzeug umgab. So wurde ich zum Erzähler seines abgestuften Lebenswegs. Der auf diese Weise noch eine Weile andauern wird, bis auch er seine Erinnerungen an diese Welt verliert.
Wenn es regnete und ich den Hof überqueren musste, zog ich die alten Schuhe an. Sie hinterließen tiefe Spuren im Morast, ungewöhnlich tiefe Spuren für ein Kind. Meine Spuren waren mir fremd. Ich fürchtete mich vor ihnen. Wasser quoll hinein wie in die Hufabdrücke der Pferde. Wenn der Boden wieder trocknete, blieben sie erhalten, streng und tief wie die schweren Schritte eines Soldaten. Als lastete mir etwas auf den Schultern, das bei meinem Gang gierig in den Boden biss. Deshalb erkannte ich sie auch nicht wieder. Die im Morast zurückgebliebenen oder im trockenen Boden bewahrten Spuren waren nicht meine. Ich hatte noch kein Recht auf eigene Spuren, denn vor meiner Geburt waren zu viele schmerzhafte Dinge geschehen. Diese Spuren konnten jedem von ihnen gehören. Harutiun Atanasian, Vartan Arakelian, Ervant und Vagharșag Hovnanian, Kevork Kestanian, Ruben Israelian, Kevork Hazarian, Hapet Kasparian, Hosrov Bedrosian, Hovhannes Sahaghian oder Mhitar Harutiunian, die in der Erde Sibiriens verloren waren. Oder Jirair Karakașian, Hovhannes Babikian, Zaven Saruni und Serop Surian, die kurz nach ihrer Heimkehr zuhause gestorben sind und sich im Lager mit dem Gedanken vertraut gemacht hatten, dass die Welt sie überleben werde, aber nicht darauf vorbereitet waren, dieser neuen Wirklichkeit standzuhalten, in der sie eine Welt überleben sollten, die einmal ihre war und die sie nun nicht wiedererkannten.
Selbst wenn die Kiste mit den Schuhen zu ihnen gelangt wäre, hätte mein Onkel Vagharșag Hovnanian keine Gelegenheit gehabt, seine eigenen zu tragen. Vom Weg erschöpft, war er als Erster schon in der Lubjanka gestorben, ohne bis nach Sibirien zu gelangen. Er starb barfuß, und das heißt, dass er selbst an jenem Ort den Tod gottesfürchtig empfangen hatte.
ZWEI
F ür das Kind, das ich war, ist der Friedhof wie ein großer Garten gewesen, in dem die Blumen und Bäume eine Minute früher aufblühten als an jedem anderen Ort. Ich wusste nicht, wo die Kraft der Blumen und Bäume herkam. Damals hatte der Tod keine Bedeutung für mich. Ich fühlte ihn schweigen und aufblühen, und das reichte mir. Der Tod war eine Art vorzeitiger Frühling. Der erste Tote, den ich gesehen habe, war Großvater Garabet. Er hatte mir viele Dinge der Erde und der Luft beigebracht, indem er sie mir zeigte. Er wollte es auch sein, der mir den Tod zeigte. Etwas später sagte ich mir, dies sei so gekommen, weil die Welt zu klein war, uns beide gleichzeitig mit all unseren Phantasien zu fassen.
Wie keine zwei Leben einander gleichen, gleichen sich auch die Gräber nicht. Vielleicht werden die Toten eines schönen Tages dahin gelangen, einander zu gleichen, wie der Kirchenvater sagte. Aber die Erinnerungen an sie sind verschieden. Das Grab ist eine Art der Erinnerung, das den Namen jedoch draußen lässt, wie es beim Schwimmen geschieht, wenn man ein Schilfrohr benutzt, um damit zu atmen. Denkt man diesen Gedanken weiter, wird verständlich, dass man auch keine zwei Friedhöfe wird finden können, die einander gleichen. Der armenische Friedhof in Focșani war anders als andere Friedhöfe. Vor allem weil es mein Friedhof war und ich dort, ohne es zu wissen, dem Tod begegnet bin. Der sich mir in Gestalt eines blühenden Mirabellenbaums zeigte. Und zweitens, weil es dort keine Holzkreuze gab. Ich habe den Eindruck, dass in einer von Ordnungssinn bestimmten Welt, in der die Menschen zu ihrem Schutz allerlei Mauern und Wände zwischen sich und dem Tod aufrichten, Holzkreuze nur einen übereilt eingetretenen Tod bezeugen.
Die Armenier meiner Kindheit starben in wohlgeordneter Folge. Sie ließen sich Stein- oder Marmorkreuze anfertigen, wählten schöne Fotos aus und ließen sie auf glänzende Keramiktäfelchen gravieren. Wenn ihnen
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