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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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ihm eine modische Krawatte mit einem kleinen europäischen Knoten umgebunden und einen Hut aufgesetzt, was ihn wie eine Art Charlie Chaplin aussehen ließ. Diese Angestelltenpositur könnte überzeugend wirken, wäre er nicht von vier Wärtern umstellt gewesen, zwei Türken und zwei Engländern, allesamt in Militäruniformen. Die Wärter begleiteten ihn bis zum Gefängnistor, wo ein Militärfahrzeug mit abgeblendeten Scheinwerfern wartete, das die Engländer mit ihm bestiegen. Durch Seitengassen fuhr das Auto zum Hafen und hielt an einem entlegeneren Kai, wo ein griechisches Schiff vor Anker lag. Misak Torlakian wurde in eine Kabine gesperrt. Die Pistolen in der Hand und jederzeit schussbereit, blieben die Engländer am Kai stehen, bis das Signal zum Auslaufen des Schiffes gegeben wurde. Als das Schiff sich weit genug entfernt hatte, sodass auch der unbedachteste Versuch, an Land zurückzukehren, nicht mehr möglich war, schloss der Kapitän die Kabine auf und setzte Misak davon in Kenntnis, dass man Piräus anlaufen werde, wo er frei sei, hinzugehen, wo immer er hingehen wolle, nicht aber in die Türkei, denn dort würde man ihn sofort wieder verhaften. Das Schicksal brachte es später mit sich, dass Misak Torlakian vom Meer aus den Hafen von Trapezunt wiedersehen sollte und von den Plateaus her den Berg Ararat, der nun jenseits der Grenze lag, aber auf türkischen Boden hat er keinen Fuß mehr gesetzt.
    Von Piräus aus ging Misak Torlakian mit dem wenigen Geld, das er bekommen hatte, nach Athen. Niemand folgte ihm. Zum ersten Mal in seinem Leben musste er vor niemandem auf der Hut sein und auch selbst niemanden beschatten. Er konnte alles tun, was ihm in den Sinn kam, denn er hatte nichts zu tun.
    Im Alter von zweiunddreißig Jahren stand Misak Torlakian mit leeren Händen da und empfand die Freiheit als eine Last. Er ging zur armenischen Kirche, mischte sich unter die Immigranten, aber diese hatten nun andere Sorgen, sie mussten überleben, was ihnen dadurch gelang, dass sie an den Straßenecken
Pastârma
und
Sugiukh
verkauften. Das Leben saß ihnen im Nacken, und sie hatten keine Zeit mehr, nach rechts oder links zu schauen.
    Als er nun nach der Anspannung der letzten Jahre etwas benommen wieder zu sich kam, hielt Torlakian diese Welt für schmerzlich indifferent. Er wandte sich nach Norden, nach Saloniki, wo er einige seiner Gefährten zu treffen hoffte. Armenier gab es zu jener Zeit überall, in den Häfen des Schwarzen Meeres ebenso wie in denen des Mittelmeers, viele von ihnen waren nach dem Krieg zwischen den Türken und den Griechen eben erst angekommen. Misak Torlakian mischte sich unter sie, suchte nach den Kampfgefährten von General Antranik oder Dro Kanayan, den Mitgliedern der Dașnak-Partei. Es verhielt sich genauso wie in Athen. Misak Torlakian erwies sich als unnütz, ja geradezu störend; wie jeder Held, der nicht rechtzeitig gestorben ist. Er suchte sich eine Arbeit. Das Geld ging ihm aus, und zum ersten Mal empfand er den Hunger nicht als einen Grund, sich noch unerbittlicher in die Revolte zu stürzen, sondern als ein menschliches Bedürfnis, deshalb betrachtete er ihn als beschämend. Er hatte noch nie auf die übliche Weise gearbeitet. Die Werkzeuge, mit denen er seit seiner Jugend hantiert hatte, waren Waffen gewesen, vor allem die Mauser. Er hatte mit diesen Waffen gekämpft, sie gereinigt und repariert, sie bewundert, hatte sich an sie gewöhnt, er war nicht bloß ein Kämpfer, sondern ein mit der Waffe Arbeitender.
    In Europa schwiegen die Waffen. Mehr noch, der Kontinent schämte sich seiner Unmengen an Waffen. Die Regierungen sprachen von der Liga der Nationen, die Armeen, die angegriffen hatten, wurden entwaffnet, die Soldaten wurden entlassen und ließen das Kriegsgerät stehen. So hätte es auch Misak Torlakian halten können, er aber war Soldat einer Armee, die sich ihre Generäle selbst geschaffen hatte, einer Armee, die sich – die kurze Periode im Frühjahr 1918 ausgenommen – nicht in den Dienst einer Regierung gestellt hatte, sondern eines Volkes, und deren Stärke errechnete sich nicht in Divisionen, sondern in verstreuten Haufen. Auch er war eine Art Soldat, er hätte nachhause entlassen werden können, nur gab es dieses behagliche Zuhause nicht mehr.
    Solange er von einem Ort zum anderen reiste, wollte niemand etwas von ihm wissen. In dem Augenblick aber, da er beschloss, sich eine Behausung zu suchen und sich ein Zimmerchen in der Nähe des Hafens zu mieten, wo er von

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