Buch des Flüsterns
kratzten mit den Fingernägeln daran, bis sie eine Handvoll körnigen Putz beisammenhatten. Weil die äußeren Zeichen der Krankheit nicht simuliert werden konnten, zerriss der Russe, etwas geübter in der Kunst der Tortur, sein Hemd in Streifen und fesselte damit Misaks Hände auf dem Rücken. Dann nahm der Mazedonier den krümeligen Wandputz und hielt ihn dem Armenier in der Kuhle seiner Hände hin, so, als streckte er ihm Trinkwasser entgegen. Und während der Araber ihn am Nacken gepackt hielt, sodass er sein Gesicht nicht schützen konnte, rieb ihm der Mazedonier kräftig mit beiden Händen das Gesicht ab, als würde er ihm das Gesicht waschen. Erst wurden seine Wangen weiß, dann schwollen sie an, die Haut platzte auf, als habe er sich mit einem stumpfen Rasiermesser rasiert. Aber das reichte noch nicht. Er stöhnte und versuchte, seine Hände aus der Verschnürung zu reißen und sie auf die aufgerissenen Wangen zu pressen, als sie ihn in der Zelle die Treppe hochschleppten. Aber seine Hände blieben straff gefesselt, sie nützen einem Schlafwandler nichts, da er nicht wissen kann, dass er sich in Gefahr begibt, und daher auch keinen Grund hat, sich schützen zu wollen. Und oben, am Ende der Treppe, stießen sie ihn hinab. Und dann noch einmal und noch einmal. Er rollte die Treppenstufen hinab, und erst als seine Schultern schwarz wurden, da er ungeschützt hinabfiel, und sein Nasenbein an einer Stufenkante gebrochen war, befanden seine Zellengenossen, dass es nun reichte. Sie lösten die Fesseln, und er blieb reglos liegen, stöhnte nur. Der Mazedonier zerrieb den Kalk zu einem feinen Pulver, mischte grüne verschimmelte Brotkrümel hinein, goss etwas Wasser darüber und verwandelte den Dreckklumpen in einen grünlichen Auswurf, den er dem Verletzten über die Lippen und ganz besonders achtsam in die Mundwinkel strich, wo solch ein Auswurf schließlich hingehörte. So fand ihn der Gefängniswärter am nächsten Morgen vor, und die Mienen der der drei anderen wirkten gleichgültig. Von der Verteidigung in den Zeugenstand gerufen, erzählten sie stets die gleiche Geschichte vom Schlafwandler, der häufig im Schlaf redete und herumging, diesmal aber sei sein Albtraum schlimmer gewesen als sonst, Torlakian sei an die Wände gestoßen, mehrfach die Treppe hochgegangen, an die Eisentür geprallt und heruntergestürzt. Und warum habt ihr ihn nicht geweckt? Wir hatten es früher schon mal versucht, aber kaum waren wir wieder eingeschlafen, ging es mit ihm wieder los. Er wacht von alleine auf, aber erst wenn er seine Albträume zu Ende geträumt hat. Und letztlich, fügten sie hinzu, wen interessiert das schon?
Wie geschickt Torlakian versehrt worden war und wie überzeugend seine Darstellung des Somnambulen gewirkt hat, teilt uns Major Davis’ Einlassung mit: »Wenn wir berücksichtigen, dass sein Vater verrückt und seine Großmutter eine Schlafwandlerin waren, wenn wir desgleichen bedenken, dass er die Bilder seiner Eltern und aller seiner Lieben vor Augen hat, die ermordet worden sind, so beweist dies, dass er nicht Herr seiner Sinne ist. Es gibt Zeugnisse seines Somnambulismus, ich habe ihn mit Schaum um den Mund gesehen, und jedermann weiß, dass dies eines der Symptome nach einer somnambulen Krise ist, ebenso, dass auf diese Krisen Depressionen folgen, die häufig zum Verbrechen drängen, wofür dem Kranken keine Verantwortung zukommt, denn er hat keinen Begriff von der Verantwortlichkeit für seine Taten.«
Mit dieser Aussage endete der Prozess. Das Urteil wurde zwei Wochen später verkündet und glich auf schlagende Weise dem, das etliche Monate zuvor in Berlin beim Prozess des Solomon Tehlirian gesprochen worden war, der des Mordes an Talaat Pascha angeklagt war: »Der Angeklagte ist des Mordes überführt, aber das Gericht hält ihn nicht für tatverantwotlich, denn im Augenblick der Tat litt er unter mentalen Störungen.«
Torlakian wurde zurück ins Gefängnis geschickt, aber diesmal in eine Zelle, die er mit niemandem mehr zu teilen hatte, auch durfte er im Gefängnishof spazieren gehen. Nach etwa drei Wochen wurde er eines Nachts ins Büro des Direktors gebracht. Dort erwarteten ihn Zivilkleider. Das Foto zeigt ihn am ganzen Leib abgemagert, die viel zu weiten Kleider hingen an ihm herab, und er hatte die Hände, noch steif von der engen Fesselung, vor dem Bauch zu Fäusten geschlossen. Wie ein Bankangestellter sah er aus, und damit die Umstände definitiv anders aussähen, als sie waren, hatte man
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