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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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einem Tag auf den anderen eine Arbeit hätte finden können, klopften zwei Soldaten an seine Tür. Mittlerweile hatte es zwischen der Türkei und Griechenland Frieden gegeben. Wer aus der Türkei ausgewiesen worden war, wurde nun in Griechenland nicht mehr gerne gesehen. Torlakian wurde zum Bahnhof eskortiert und unter strengster Bewachung an die jugoslawische Grenze gefahren. In Belgrad suchte er vergeblich nach Solomon Tehlirian. Gut, dass er ihn nicht fand, denn Tehlirian war nicht mehr der Kämpfer, den er bei ihren geheimen Begegnungen in der Redaktion der Zeitung
Djagadamard
in Konstantinopel kennengelernt hatte. Wie es so häufig nach einer die Grenzen des menschlich Verkraftbaren überschreitenden Anspannung geschieht, in der man auf den unglückseligen Gedanken verfallen ist, bloß nicht zu sterben, war Solomon Tehlirian nun für den Rest seines Lebens ermattet. Was, wie wir sehen werden, Misak Torlakian nicht geschehen sollte. Zum ersten Mal war er dem Tod in seiner Kindheit auf den kleinen Plätzen von Trapezunt begegnet, und er hatte ihn nicht nur so kennengelernt, wie es gemeinhin geschieht, nämlich in einem reglosen und kalten Leib hausend. Er hatte somit nicht bloß das tote Abbild des Todes gesehen, sondern war dem lebendigen Tod begegnet, der sich unter die Leute mischt, in der Menge mitläuft und seine Wahl trifft, dem Tod in seiner brutalen und unerwarteten Gestalt.
    Weil er in der friedlicher werdenden Welt seinen Platz nicht finden konnte, von den Autoritäten dahin und dorthin geschubst wurde und vereinsamt war, begab sich Misak Torlakian, von der seltsamen Faszination geleitet, die schon so viele andere für die Gefilde Rumäniens empfunden hatten, auf eine Bahnfahrt, die ihn nach einem Tag und einer Nacht an einem frostigen Februarmorgen des Jahres 1922 in Bukarest ankommen ließ. Und sein erster Gang, links und rechts fragend, führte ihn über schneebedeckte Straßen und zwischen liegengebliebenen Straßenbahnen hindurch zur armenischen Kirche auf dem Boulevard Carol I. und danach zum Armenischen Konsulat, wo Harutiun Khântirian ihn umarmte; es war zum ersten Mal, dass er einer solchen Geste teilhaftig wurde, seit er sich von seinen Gefährten der »Nemesis«-Gruppe im Sommergarten vor dem Hotel »Pera Palace« verabschiedet hatte, worauf er mit der Pistole in der Hand die Straße überquert hatte, um den riesenhaften Bahbud Khan Djivanșir einzuholen. Khântirians Umarmung war aufrichtig. Seit der Besetzung Armeniens durch die Bolschewiken suchten ihn immer weniger Leute auf, deshalb, und wie ein Kaufmann ohne Kundschaft, empfing Harutiun Khântirian jeden wärmstens, der über seine Schwelle trat. Und die Stempel vertrockneten in ihren Halterungen, weshalb Khântirian Misak Torlakian einen ganzen Haufen beweiskräftiger Dokumente ausfertigte und überreichte, die so unbrauchbar wie reich bestempelt waren. Von Armenag Manisalian erhielt er noch ein Zertifikat über seine Volkszugehörigkeit; dabei hatte er sich nie vorstellen können, jemals Dokumente zu benötigen, die bewiesen, dass er Armenier sei, aber Manisalian meinte, es sei nicht eben angebracht, die bei seiner Freilassung aus dem Gefängnis erhaltenen Papiere den rumänischen Behörden vorzulegen. Sodass Misak Torlakian, ausgestattet mit diesen neuen Identitätsnachweisen – den einen, die seine Zugehörigkeit zu einem Volk ohne Vaterland, und den anderen, die ihn in den Schutz eines Staates stellten, den es nicht mehr gab –, über zwei Jahrzehnte in Rumänien blieb.
    Im Unterschied zu anderen Helden des
Buchs des Flüsterns
hat Misak Torlakian sich nicht bereichert. Ihm ist es nicht gelungen, auch nur das kleinste Geschäft auf die Beine zu stellen. Weil viele andere, die sich in seiner Lage befanden, von den Häfen angezogen wurden, wo man zwischen zwei Pfiffen aus den Schiffssirenen jederzeit sein Leben neu beginnen konnte, ging Misak Torlakian nach Constanța. Zur gleichen Zeit traf dort auch Levon Zohrab ein, möglicherweise kreuzten sich auch ihre Wege auf den Holzstegen, zwischen den aufgetürmten Säcken und den Bretterstapeln, aber von einer Begegnung wissen wir nichts. Und den Beweis dafür, dass sie sich nicht begegnet sind, liefern die so unterschiedlichen Schicksale der beiden; Levon Zohrab bereicherte sich, anfangs durch den Handel mit Baumaterialien, dann mit Kolonialwaren, während Misak Torlakian, äußerst geschickt in der Handhabung der Waffen, sich als gänzlich unbegabt im Umgang mit Geld erwies. Mit einer

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