Buch des Flüsterns
kleinen Summe Geldes, die er aus Boston erhalten hatte, wo sich Armen Garo damals aufhielt, und in Erinnerung an die Betätigungen seiner Familie im Dorf Ghiușana südlich von Trapezunt, kaufte Misak Torlakian sechs Kühe, mit denen er eine Farm gründete. Er tat sich mit Aram Yerganian zusammen, dem ungestümsten unter den Mitgliedern der Operation »Nemesis«. Sodass zu Friedenszeiten, als diejenigen, die Wunden geschlagen hatten, nach neuen Gelegenheiten suchten, Wunden zu schlagen, und diejenigen, die verletzt worden waren, nach einer Ruhefrist suchten, um sich zu heilen, die unversöhnlichsten Richter, die Europa von Rom über Berlin und bis in den Kaukasus auf den Spuren der Mörder am armenischen Volk durchkämmt und das vom Kriegsgericht verhängte Todesurteil vollstreckt hatten, sich in der Nähe von Constanța in einer Niederlassung namens Topraisar mit der Rinderzucht beschäftigten. Nach einigen Monaten, in denen sie sich mit dem Melken der Kühe abgemüht hatten, gaben Torlakian und Yerganian klein bei, und jeder von ihnen freute sich, als dieser Entschluss feststand. Verärgert über seine Niederlage mit den Kühen, meinte Misak Torlakian, sich an ihrem Geschlecht rächen zu sollen, und ließ sich als Arbeiter in einer Gerberei anstellen. Die Kühe aber, die sich ihm nunmehr als stinkende Häute präsentierten, die abgeschabt, gegerbt, gekocht, ausgebreitet und zugeschnitten werden mussten, erwiesen sich als unbeugsam, und Misak Torlakian lebte weiterhin in schrecklichster Armut. In einer Kolonie, die sich ihren Weg Richtung Wohlstand bahnte, verblieb die Gruppe der »Nemesis«-Vollstrecker arm und vereinsamt. Von jeder Verbesserung seiner Lage oder gar Muße verschont, die ein wie auch immer gearteter Wohlstand mit sich gebracht hätte, vom Klingeln der Münzen gemieden, in Elend und Schweigen gehüllt, bewahrte sich Misak Torlakian seinen Hass frisch und ungestüm.
Damals fand die erste Begegnung zwischen Misak Torlakian und meinem Großvater Garabet Vosganian statt, und zwar am 23. April 1923. Misak, der im Büro der Revolutionären Armenischen Föderation in Constanța einen Anzug erhalten und einige Tage davor seine Arbeitsstelle aufgegeben hatte, um sich den schweren Geruch der gegerbten Häute aus dem Leib zu treiben, kam zusammen mit Tatevos Bedrosian, dem Direktor der armenischen Schule, dem Gleichen, der in den vierziger Jahren in deutscher Uniform, aber mit der armenischen Trikolore am Arm, auf der Suche nach Freiwilligen für die Armenische Legion durch die Kirchen ziehen sollte, als Delegierter zur Versammlung der ausländischen Filialen der Dașnak-Partei. Er hatte diese Versammlung gespannt herbeigesehnt, erhoffte er sich doch, sie könnte sein Leben auf die ihm vertrauten Bahnen zurücklenken.
Noch lange danach bemühte sich Misak Torlakian, sich die Gesichter der aus allen Ecken und Enden der Welt herbeigereisten Leute zu vergegenwärtigen. Diejenigen, an die er sich erinnerte, die Männer von den Gebirgspfaden, aus den geheimen Versammlungen der Dașnak-Büros in Trapezunt, Tiflis oder Baku, aus den Freiwilligeneinheiten der russischen Vorhut oder den Flanken der armenischen Armee von Sardarapat, aus der Gruppe, die den Namen der Rachegöttin Nemesis erhalten hatte, sie trugen ihr Haar unfrisiert, aber von einem Band zusammengehalten, das Gesicht verborgen unter einem Bart, sie sprachen wenig, teilten, tot oder lebend, das gleiche Schicksal, als wären sie einer über dem anderen ans gleiche Kreuz geschlagen. Sie erkannten sich an dem irren Blick ihrer schwarzen Augen, dem trockenen und glänzenden Blick derer, die keinen Schlaf kennen, und wenn sie doch einmal einschlafen, in ihren Träumen wach sind. Die Leute von heute waren ihm unbekannt, und auch sie schienen ihn nicht zu erkennen. Sie trugen enge städtische Kleider, waren frisch rasiert und hatten sich das Gesicht mit Pomade eingeschmiert, verströmten den süß-säuerlichen, kribbelnden Duft nach Spezereigeschäft, trugen das Haar zurückgekämmt und beschwert mit Brillantine, sprachen, indem sie die Silben dehnten, und rundeten die wichtigen Wörter ab, die im Armenischen zumeist mit der Silbe
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enden, abstrakte Wörter, die den Eindruck entstehen ließen, sie seien eher darauf aus, zu debattieren als zu entscheiden, keinesfalls jedoch zu handeln. Misak Torlakian, beschämt wegen seiner Kleider, dem Kölnischwasser, mit dem er sich Hände und Gesicht eingerieben hatte, um den abgestandenen Geruch der schweren Dünste aus
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