Buch des Flüsterns
der Gerberei zu vertreiben, wegen seiner lange schon getragenen Schuhe, hielt sich am Rande, saß da und hörte reglos zu. Von denen, die atemlos im Gerichtssaal von Konstantinopel gesessen hatten, war niemand hier: Sie hätten bezeugen können, dass er auch dort schon so versteinert, dass sein Gesicht auch beim Prozess so verstört und sein Blick so abwesend gewirkt hatten. Und als Hovhannes Kaciaznuni, zwischen 1918 und 1919 erster Ministerpräsident der Republik, seine Rede begann, kauerte er sich wie eine schwarze Spinne in seinen Stuhl, krallte die Fingernägel in die Armlehnen und schaute verzweifelt in die Runde. So begab er sich wieder in die parallele Wirklichkeit, aus der das weiße Pferd mit dem geronnenen Blut am Hals schnaubend über alle hinwegschaute. In dieser parallelen Welt starb die Erinnerung an die Leute später als die Leute selbst. Ebenso verhielt es sich mit den Stimmen. Kaciaznuni sprach ohne Unterbrechung und ohne einen Blick in den Saal zu werfen, als wollte er sich von einer Last befreien. Torlakian kannte ihn noch aus der Zeit, als infolge eines Votums des Nationalrates in Tiflis der Rückzug Armeniens aus der Republik Transkaukasien beschlossen worden war, und er – im Frühjahr des Jahres 1918 – als Premierminister der Republik, die Misak verteidigte, nach Jerewan kam.
Der Revolutionären Armenischen Föderation bleibt nun nichts mehr zu tun, sagte Kaciaznuni. Das Schicksal der Dașnak-Partei ist beschlossen. Während des Krieges haben Banden von Freischärlern – diese Worte schmerzten Misak am meisten – ohne die Genehmigung der Partei agiert, vor allem, weil sie sich nicht beherrschen konnten, und nicht etwa infolge einer organisierten Aktion ... Wir haben den Sinn für die Realitäten verloren und haben uns bis zur Enttäuschung von unseren Träumen leiten lassen ... Nicht außerhalb von uns, sondern in uns selber müssen wir den Grund für unser Unglück suchen ... Unsere Partei wollte alles kontrollieren und gelangte zur Diktatur, während das Parlament nur eine Fiktion blieb. Die Republik hätte mit den Türken zu einer gemeinsamen Sprache finden müssen. War die Ankunft der Bolschewiken ein Unglück für unser Land? Es gibt keine andere Macht, die an deren Stelle treten könnte. Hätten sie ihr Kommen hinausgezögert, so hätten wir selbst sie zu kommen gebeten. Armenien braucht die Bolschewiken ...
Misak Torlakian wartete die Diskussionen nicht mehr ab, er hörte sich nicht einmal die Rede bis zum Ende an, er schlich hinaus, ging wie von Sinnen drauflos, bis er, in einem öden Winkel angelangt, die Stirn an eine Mauer lehnte und weinte. Er fühlte sich nicht allein, sondern, immerhin unter seinesgleichen, verlassen. Nun sagte er das, was er im Saal am liebsten herausgeschrien hätte, aber seine erstickte, von Schluchzern zerhackte Stimme war ein nervöses Weinen, ein eher wütendes denn schmerzerfülltes Sprechen. So, die Stirn an die Wand schlagend, als wäre es die Klagemauer, fand ihn mein Großvater Garabet Vosganian. Großvater legte ihm mit sanfter Gebärde die Hand auf die Schulter, Großvater, der noch nie einen Menschen geschlagen hatte, die Welt hatte ihn noch nie so unverhofft überrumpelt. Wutentstellt wandte sich Misak Torlakian um, Tränen glitzerten auf seinem Gesicht. Er hingegen hatte sich nicht gescheut, sich mit der Welt anzulegen, hier gab es nichts mehr zu verstehen, er wusste genug, das ihn zu strafen anspornte. Das vergossene Blut trocknet nicht, es bleibt wie eine Grenzlinie, und er war der Grenzer, auf der einen Seite befinden sich die Opfer und auf der anderen Seite diejenigen, die bestraft werden müssen. Kein Ufer darf höher sein als das andere, behüte Gott, dass das Blut über das Ufer tritt. Großvater lächelte ihm zu, aber vielleicht fasste jenes wütende und zugleich auch tränenüberströmte Gesicht dieses Lächeln als Verhöhnung auf. Es stimmt schon, die Armenier meiner Kindheit lächelten kaum. Viele der Dinge, die ihnen zuteilgeworden waren, waren traurig. Ihre Erinnerungen, die Lieder, die neuen Toten, sogar die Feiertage.
Obwohl das, was sie erzählten, sangen, zu dem sie beteten, das sie teilten und gemeinsam hatten, traurige Dinge waren, sind die Armenier meiner Kindheit keine traurigen Menschen gewesen. Nun ja, sie lächelten nicht allzu oft, aber sie weinten auch nicht. Lächeln und Tränen entspringen der Verwunderung und der Unruhe, einer gewissen Zweideutigkeit. Die Blicke der alten Armenier aber waren klar, sie waren
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