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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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Ihr rechtzeitiger Auftritt. Der Abgang folgt. Maro, von den Janitscharen verfolgt, stürzt sich von den Felsen ins trübe, rötlich gefärbte Wasser des Euphrat. Hinter ihr brennt der Reifen noch immer. Andere Frauen, Bräute oder Mütter, bereiten sich vor, hindurchzuspringen. Eine endlose Kolonne. Pietà. Schweigend treten sie herbei und setzen sich einen Augenblick lang in die Arme der Jungfrau. Was dann kommt, weiß ich nicht.
    Unser einzig vollständiges Familienfoto befindet sich in meinem Briefmarkenalbum. Ihr werdet euch wundern, denn anstelle etlicher armenischen Gesichter mit dichten Brauen und dunklen Augen werdet ihr dort die gepuderte Perücke von George Washington finden, die Krone von Königin Elisabeth und die Zedern Libanons.
    Großvater zeigte mir, wie man die Briefmarken von den Umschlägen ablöst, ohne sie zu beschädigen. Auf die Ecke mit der Briefmarke legt man einen wassergetränkten Wattebausch. Wird das Papier nass, biegt sich die Ecke, und mit aufgeweichtem Klebstoff lässt sich die Briefmarke leicht ablösen. Dann legt man die Briefmarken auf die glatte Ofenumrandung zum Trocknen. Und siehe da. Die neue Geschichte meiner Familie, die nach der Zerschlagung der Konvois übrig geblieben ist. Sie hat in Adana, Van, Afion-Karahisar und Konstantinopel ihren Anfang genommen. Ging durch die Wüsten Mesopotamiens, die an Straßenrändern liegenden oder im angeschwollenen Wasser treibenden Leichen, durch dunkle Schiffsbäuche, über schmierige Decks, durch Waisenhäuser und immer wieder hastig zusammengerafftes Gepäck. Ein weiterer Feuerkreis, der die Leiber zwang, dünner zu werden, damit sie durchspringen konnten.
    Die Freiheitsstatue ist meine Tante Haigui, Sahag Șeitanians Schwester. Sie kam 1919 nach Rumänien und emigrierte nach dem zweiten Krieg über den Libanon in die Vereinigten Staaten. Die Briefmarken mit der Freiheitsstatue klebten auf Umschlägen mit ihrer gepflegten Handschrift und waren in Hartford an der Ostküste abgeschickt worden. George Washington kommt von der Westküste. Die Adresse unter ihm ist von der eiligen Hand Kevork Kiulanians geschrieben, des Neffen meines Vaters, oder von der beflissenen Hand von Tante Anahid, der Schwester von Onkel Kevork. Und siehe, der amerikanische Adler mit ausgebreiteten Flügeln, den die Lippen von Tante Satenig befeuchtet haben, der Schwester von Großvater Setrak. Simon Bolivar mit Epauletten und der wie festgefroren auf dem Säbelknauf erstarrten Hand ist die Gestalt, unter der sich in Venezuela Haig verbirgt, der Bruder von Dicran Bedrosian, Uhrmacher auf der Hauptstraße. Die exotischen Vögel kommen aus Argentinien, Zaruhi hat sie geschickt, die Schwester von Großvater Garabet. Die kleinen Briefmarken mit slawischen Buchstaben erzählen von Ovanes, dem jüngeren Bruder des Großvaters Garabet, der seine Tage mit Müh und Not in einem Altersheim in Silistra zubringt. Die Briefmarken sind schief aufgeklebt, er sieht nicht mehr gut, und selbst die Schrift, meint Großvater, ist nicht mehr die seine, er diktiert seine Botschaften jemand anderem. Unter den finsteren Zügen von Gamal Abdel Nasser muss ich mir das vornehme Gesicht Luizes vorstellen, der in Kario verheirateten Tochter von Ovanes. Die Zedern des Libanon beherbergen in ihrem Schatten unsere anderen Neffen, die im Orient geblieben sind, weil sie meinten, das unserem Schicksal gegenüber so gleichgültig gebliebene Europa würde ihnen kein gutes Haus sein können. Und doch, sieh, das Antlitz Napoleons oder Delacroix’ Gemälde, in dessen Zentrum die phrygische Mütze zum Kampf aufruft, diese hat Bergi geschickt, der Sohn des in Sibirien gestorbenen Ervant Hovnanian.
    Ich ordne sie sorgfältig. Überlege, mit den allernächsten, den Blutsverwandten anzufangen, dann die durch Heiraten hinzugekommenen, mit denen meine Großeltern sich lediglich den Namen geteilt hatten, dann diejenigen, mit denen sie ihr Leid geteilt hatten. Ich beginne von vorne. Diesmal in der Reihenfolge der Trennungen. Zuerst diejenigen, die schon zur Zeit der Massaker einen anderen Weg eingeschlagen haben, indem sie nach Syrien hinüberwechselten, in den Libanon oder nach Ägypten, wo sie blieben oder das Mittelmeer überquerten und nach Marseille gelangten; die dort nicht heimisch wurden, überquerten den Atlantik bis nach New York. Dann die anderen, die von Anfang an nach Europa kamen, sie warteten die Öffnung der Schwarzmeerhäfen ab und trugen einen Namen, der bis dahin noch keinem Menschen verliehen

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