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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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worden war: Apatride. Das heißt nicht, dass sie keine Heimat hatten, die sie hätten lieben können, aber die Heimat, die sie beschützt hätte, hatten sie verloren. Damit sie immerhin einen Namen für die Nachschlagewerke hatten und ein Land, unter dessen Namen man auf einem Stückchen Papier ihre Identität eintragen konnte, wurde ein neuer Staat erfunden, der sich überall und nirgendwo befand. Die verlorenen Söhne, Diener dieses neuen und seltsamen Staates, dessen Errichtung Fridtjof Nansen, Hochkommissar des Völkerbundes für Flüchtlingsfragen, vorgeschlagen hatte. Der Staatenlosenpass bedeutete, dass man von allen Rechten, die man einmal hatte, nur diejenigen behielt, die von Gott gekommen waren, den Namen, den einem die Familie vererbt hat, und das Zeichen der Taufe, nämlich den Vornamen. Geburt und Taufe. Die Familiennamen der Armenier enden fast alle auf »ian«, was nach väterlicher Linie die Zugehörigkeit zu einer Familie anzeigt. Kevorkian beispielsweise. Nämlich der des Kevork, was auf Armenisch Georg heißt. Dank dieses neuen Stammvaters mit blauen Augen, weißer Haut und schneeweißem Haar, der für das braunhäutige und dunkeläugige Volk gänzlich ungewohnt war, nannten sie sich Nansenianer, das heißt Niemandes. Wir hatten das Foto von Nansen mit seinem weißen Schnauzbart und dem sanften Blick in unserer Wohnung hängen. Niemand anderer, nicht einmal die Norweger erwähnten den kühnen Forschungsreisenden häufiger als wir Armenier. »Wir erhielten die rumänische Staatsbürgerschaft erst 1948«, fand ich lange danach in Großvater Garabets Papieren notiert. »Bis dahin wurden wir nicht zum Militär eingezogen, konnten wir kein Geschäft unter unserem Namen eröffnen, durften wir hinziehen, wo wir hinziehen wollten, obwohl uns niemand aufnahm. Wir waren Nansenianer.« Dieses neue Geschlecht der Nansenianer durfte im Hafen von Constanța aufgrund einer Genehmigung der Brătianu-Regierung von Bord gehen, es war die erste Regierung der Welt, die bereit war anzuerkennen, dass es Bürger eines Staates gibt, der sich auf keiner Landkarte befindet. Die Nansenianer, fleißig und verschwiegen, verteilten sich anfangs auf die näher gelegenen Ortschaften: Galați, Brăila, Babadag, Silistra und Balcic. Dann, etwas mutiger geworden, ging es hoch nach Focșani, Buzău, Ploiești, Bukarest, Pitești oder Craiova. Sie füllten die Straßen mit dem Aroma der orientalischen Spezereien, die sie in Geschäften mit runden Firmenschildern verkauften, trugen seltsame Namen und sprachen eine alte, rauhe und gleichzeitig wie eine Klagemelodie klingende Sprache, deutliche Worte, die sich um die Zeit meiner Geburt nach und nach in Flüstern verwandelte. Nach dem Krieg haben viele von ihnen, von der Wahrheit der kommunistischen Propaganda überzeugt, all ihren Besitz verkauft, noch einmal ihr Bündel geschnürt und sind aufgebrochen ins sowjetische Armenien. Andere haben davon profitiert, dass die neue Welt, nachdem sie vergeblich versucht hatte, sie von ihren Tugenden zu überzeugen, zur Schlussfolgerung gekommen ist, es sei besser, sie ziehen zu lassen. Also verstreuten sie sich wieder einmal dahin und dorthin. Die meisten gingen nach Amerika. Diese stecken in meinem Briefmarkenalbum als die letzte Welle. Selbst wenn sich eines schönen Tages erweisen sollte, dass auch dieses nicht das gesuchte Gestade ist, und sie sich wieder auf den Weg machen.
    Dann beschloss ich, sie nach der einzigen Grenzlinie zu ordnen, die ich mit Gewissheit kenne: jene meiner Geburt. Zuerst steckte ich die ein, die ich kennengelernt habe, dann die weniger Bekannten und zum Abschluss die Unbekannten. Alles war durcheinander. Die Jüngsten waren den Alten voraus, die Lebenden vor den Toten, die nicht Vertriebenen vor jenen, die sich auf der Flucht verausgabt hatten. Urteilte man vom Sinn meiner Geburt her, so hatte die Geschichte keine Logik mehr. Mit anderen Worten: Nichts, was vorher geschah, hatte mich angekündigt. Ich war ein Zufall, und durch dieses Fenster betrachtet, das mein Leben war und durch das kaum ein Blick passte oder auch nur der Lauf einer Flinte, verwischten sich Sinn und Zweck der Geschichte, und sie selbst wurde zufällig.
    Ich ordnete sie nach der Geburt. Aber die Menschen unterscheiden sich nicht darin: Alle werden wir geboren, und jeder bringt eine neue Zählung mit sich. Dann habe ich mich mit Großvater Garabet geeinigt und sie in der Reihenfolge ihres Todes angeordnet. Die Menschen unterscheiden sich nicht durch

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