Buch des Flüsterns
Dorfplatz und standen Schlange, schwitzten in den gestärkten Kragen, den langen plissierten Kleidern und bestickten Schürzen. Einige Zeit später zog der Fotograf mit den gerahmten Bildern von neuem durch die Dörfer. Auf einem Stühlchen stehend, zeigte er die sepiafarbenen Kartons den Leuten. Wer sich erkannte, hob die Hand, bezahlte und nahm sein Foto entgegen, für das er so lange geschwitzt hatte.
In beinahe allen Haushalten alter Armenier habe ich solche Fotos gefunden. Familien, versammelt um ihre Ältesten. Ohne jedes Lächeln, steif, eher Ausstellungsstücke denn lebende Wesen. In jenen Jahren legten die Armenier größten Wert darauf, sich fotografieren zu lassen. Es war ihre Art, beisammenzubleiben, denn kurz darauf verkleinerten sich die Familien und verstreuten sich. Obwohl viele von ihnen verwundert und dermaßen scheu gestorben sind, dass man ihre Gräber bis auf den heutigen Tag nicht gefunden hat, blieben ihre Gestalten auf den sepiafarbenen, an den Rändern ausgeblichenen Kartons erhalten und weisen nachdrücklich darauf hin, dass es sie einstmals gegeben hat.
Großvater Garabet spielte mit mir. Er löste den Mechanismus aus und rief: Lauf! Und dann: Halt! Er lächelte und zuckte mit den Schultern. Die Sekunden sind um! Bist nicht allzu weit gekommen. Er hieß mich zuhören. Die Sekunde, mein Junge! Du hast keine Ahnung, wer du bist, wenn du nicht darauf vorbereitet bist, in drei Sekunden die Stelle zu erreichen, an der du sein musst. Oder du bis schon zu alt, wie ich. Er lehrte mich, die Sekunden zu messen, ohne auf einen Mechanismus von außerhalb angewiesen zu sein. Schnell in Gedanken das Herzgebet zu sprechen: Komm, Jesus Christus, und segne mich armen Sünder. Und das war’s, die kurze Zeit war vorbei.
Die Chronik meiner Familie ist wie das Seil an jener großen Glocke. Jede umgeblätterte Seite ist wie ein Glockenschlag. So verlief auch das Leben dieser Familienmitglieder, Mönche, Prinzen, Kaufleute, Gelehrte und Hirten, erschöpft umherziehend, das Gesicht schmal vom Wind, der aus mutig angegangenen Zeitläuften blies.
Für sie konnte die Geschichte keine Reihe von Gräbern sein, die sie in angemessener Folge umfangen hätte. Man stellt sich hoffnungsfrohe Leute vor, die hinter ihrem Anführer mit der Haselnussrute einhergehen. Grabt hier, sagt der Rutengänger. Ihr werdet auf Wasser stoßen. Die Nachricht von der Ankunft des Rutengängers ist ein Grund zum Feiern. Dort, wo es ein fließendes Gewässer gibt, wird es früher oder später in der Nähe einen Brunnen geben. Und wo es einen Brunnen gibt, wird man eines Tages ein Haus errichten.
Unser Anführer ist jedoch nicht freudig empfangen worden. Er trug keine städtische Kleidung, glich eher einem Mönch. Er ging barfuß, und sein Umhang schien keinen Nadelstich kennengelernt zu haben. Ohne sich die Haut aufzuschürfen, glitt er über die Steine. Die Leute ließen Häuser und Habseligkeiten zurück und folgten ihm schweigend, hielten die Kleinkinder in den Armen und ließen die größeren an der Hand neben ihnen hergehen. Grabt hier, sagte der Anführer. An dieser Stelle wird es ein Grab geben. Die Leute im Konvoi wurden immer weniger, wie eine zerrissene Perlenkette. Mit der Zeit kamen die Kleinkinder an den Brüsten der Mütter zu Kräften und wurden aus den Armen gelassen, andere folgten ihnen nach und nahmen ihren Platz ein. Sie waren schon so lange unterwegs, ohne zu wissen, wohin sie aufgebrochen waren, dass sie unmerklich zum Himmel aufzusteigen begannen. Auf dem unsichtbaren Seil einer Glocke, deren runde und unversehrte Ränder sie mit den Rändern des Horizonts verwechselten. Deshalb sind in mir viele Dinge nicht geboren worden und nicht gestorben, sie steigen immerzu herab.
Einmal ging Großvater mit mir in den Zirkus. Ein großes, dunkelfarbiges Zelt auf dem Gelände, wo früher die Rinderkoppel war. Der Dompteur zündete den Reifen an, den er in der Hand hielt, und die Löwin sprang nach kurzem Zögern hindurch. Dann ging sie und setzte sich brav an ihrem Platz nieder. Wartet, rief meine Tante Maro, wischte sich die nassen Hände an ihrer Kittelschürze ab und trat zu den anderen im Foto. Wie in einem Mikado-Spiel kümmert sich von hier aus jeder selbst um den Weg, den er zu gehen hat. Eine unbewusste Hand hebt die Stäbchen eines nach dem anderen hoch, ohne dass sich eines der verbliebenen Stäbchen bewegte. Auf dem Foto lächelt Maro, die Handflächen an den Rock gelegt. Damit die Feuchtigkeit darauf nicht glänze.
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