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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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schließlich brannten die Öllager und die Raffinerien mit ihren durch die Bomben verdrehten und zerfetzten Rohren. Er suchte sich die besten Pistolen aus seinen Regalen zusammen und brach auf nach Berlin. Manche behaupten, auch damals seien Waffen vergraben worden, aber diejenigen, die er zurückgelassen hat, haben sich nicht gefragt, was mit ihnen geschehen war, vielleicht fürchteten sie, sie könnten die Antwort erfahren. Misak Torlakian, General Dro, Tatevos Bedrosian, Simon Pilibossian und die anderen beschlossen, sich zusammen mit der Armenischen Legion auf den Marsch nach Osten zu begeben; der eine steckte sich an der Krankheit des anderen an, ja, manch einer von ihnen starb sogar am Tod eines anderen. Und wie alle ungewöhnlichen Umstände, in denen der Tod unerwartet und zufällig seine Wahl trifft, hat auch ihr Aufbruch Legenden hinterlassen, von denen das
Buch des Flüsterns
auch heute noch erzählt, etwa die Geschichte von den Waffen des Generals Dro. Waffen, die niemals aufgefunden und deshalb zahllos waren, sie bewaffneten sehr viel mehr Leute in ihrem Leichtsinn, ihrem Aufbrausen und in ihrem inneren Aufstöhnen, als sie es hätten tun können, wenn jemand sie herbeigeschafft hätte.
    Misak Torlakian hatte sein ganzes Leben in Todesnähe zugebracht, und wie jeder, der auf der Grenzlinie lebt, übertrat er häufig, mitunter auch aus Achtlosigkeit, die Grenzrestriktionen. Sodass er, aus Unaufmerksamkeit, die Todeszone betrat, um danach auf die gleiche Weise von dort zurückzukehren. Er spürte die Überquerung der Grenzlinie durch die plötzliche Kälte in seinen Knochen und das Erstarren seiner Sprechwerkzeuge, an dem kalten Schweiß, der sich ihm bläulich über die Stirn legte, und dem Blut, das schwarz in seinen Mundwinkeln saß, aber am häufigsten merkte er sie durch eine seltsame Melancholie. Einen melancholischen Zustand, der ihn seit seiner Jugendzeit nicht mehr verlassen hatte, als er den ersten Menschen umgebracht hat. Schwer zu sagen, welche Melancholien ihn auf seinen Tausende und Abertausende Kilometer messenden Wegen zwischen Berlin, Warschau, Rostow am Don, Simferopol, Stalingrad und Armavir heimsuchten. Aber das vorherrschende Gefühl war Starrsinn. Ebenso seines wie das des Todes, der ihm nicht mehr von der Seite wich, ihn aus nächster Nähe begleitete, der einmal wie ein Affe auf seiner Schulter saß, kurz quiekte und Schabernack trieb, oder schwankend hinter ihm herging und nur das verschwitzte Schnauben einer Stute hören ließ, er legte sich ihm mit rötlichem Fuchsrücken eingerollt zu Füßen oder flog wie ein Vogel um ihn herum.
    Angesichts der verschiedenen Verkörperungen des Todes erstaunte ihn nicht deren Grausamkeit als vielmehr ihre Sinnlosigkeit. Der Tod dürfte doch nur für diejenigen sinnlos sein, die sich an den Gedanken, sterben zu müssen, gewöhnt hatten und ihn in ihrem Bett empfingen. Sinnlos war somit der Tod als Versöhnung. Für Misak hatte der Tod, der jedenfalls, der ihn begleitete, stets einen Sinn, eine Erklärung. Nur der Tod als Opfer konnte erlösen. Die einen opferten, andere opferten sich selbst oder wurden geopfert. Das Opfer war die einzige Weise, in der das Leben den Tod besiegen konnte. Eine Sache, die ein Opfer verdiente, sie hatte Misak Torlakians Leben geleitet, seit er ein junger Bursche war und Waffen für Njdehs oder Kevork Ceauș’ Genossen auf die Berge getragen oder eingewilligt hatte, in die Spezialmission »Nemesis« einzusteigen. Der Tod konnte keine Befriedung sein, er musste als Risiko angenommen werden.
    Doch schockiert hatte Torlakian auf seinen Wanderschaften durch die russischen Steppen, als er der Reihe nach mit der von den immensen Weiten ausgelösten Depression kämpfte, mit dem Staub der Sommerglut, den der Wind herbeiwehte, und der auf den Wangen brannte, die Motoren der Autos verstopfte und die Nüstern der Pferde, der den Speichel trocknen ließ und zwischen den Zähnen knirschte, mit dem Herbstregen und dem Morast, in dem die Räder der Fahrzeuge versanken, der sich wie die Arme gewaltiger Medusen um die Waden der Soldaten schlang und sie hinabzog, dem Regen, der das Fleisch von den Knochen verzehrte und das Holz von den Baumstämmen, dann mit dem Frost, mit dem Schnee und dem Eiswind, der alles erfrieren und selbst die Nachtmahre noch gläsern funkeln ließ, was also Misak Torlakian schockierte, war die überwältigende Sinnlosigkeit des Todes.
    Dies hatte er zum ersten Male in Warschau gefühlt. Sein Vertrauen in die

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