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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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Fähigkeit der Deutschen, überall für Ordnung zu sorgen, geriet ins Schwanken, als er in der polnischen Hauptstadt die Ghettos sah. Intensiv durchlebte er seine Verwunderung angesichts der Massenerschießungen, deren Sinn er nicht verstehen konnte, denn der Tod hatte ebenso wie das Leben sein Recht auf Eigenständigkeit. Die Gruppenhinrichtungen und die Massengräber kamen ihm vor wie eine Verhöhnung des Todes; dabei kann man mit dem Tod verfeindet sein, man kann sich vor ihm fürchten, man kann ihn verachten, aber man darf ihn nicht verhöhnen.
    Eine Zeitlang blieben Misak Torlakian und die Gruppe, mit der er aus Berlin aufgebrochen war, weit hinter der Front. Bis zu dem Zeitpunkt, als die Armenische Legion die Nordkaukasus-Linie berührte. Bevollmächtigt mit Papieren, die er in Berlin bekommen hatte, ging Misak die Gefangenenkonvois durch und befreite ein paar armenische Soldaten, die dann abzogen, die Reihen der Legion zu stärken. Durch Bessarabien reiste er hinunter auf die Krim, wo er ein paar seiner Bekannten aus der Zeit, als er während des Ersten Weltkriegs nach Russland gegangen war, wiedertraf und einige örtliche Filialen der von den Bolschewiken verbotenen Dașnac-Partei einrichtete. Dabei erhoffte er sich, diese würden nach dem Krieg die Armenier beschützen und bei der Befreiung Armeniens behilflich sein können, diesmal jedoch von der deutschen Besatzung. Als sich nun das Vordringen der Deutschen immer schwieriger gestaltete und verzögerte, rückte Misak stets näher an die Front heran, die er im Winter 1942 sogar erreichte, als die deutschen Armeen in den Kessel am Don-Knie geraten waren. Sein Instinkt hatte Torlakian dabei geholfen, außerhalb der Umzingelung zu verbleiben, und er nutzte diese Gelegenheit, um – während die beiden Armeen wie in einem Bienenkorb in der Schlacht von Stalingrad versammelt waren – bis in die armenischen Gebiete zu reisen. Dieser Krieg, in dem ein Sieg immer illusorischer wurde, gewährte ihm jedoch seinen persönlichen Triumph. Er näherte sich Armavir in der Ararat-Ebene und konnte an einem klaren Morgen die beiden Bergspitzen Sis und Masis in all ihrer Herrlichkeit bewundern, zwei schneebedeckte Berggipfel, die im Himmel hingen, höher als der Nebel reichten, das Bergmassiv von Dünsten bedeckt, aber die Gipfel waren frei, strahlten unwirklich, wirkten wie zwei Köpfe ohne Leiber, zumal diese Leiber sich jenseits der Grenze befanden, auf türkischem Gebiet, und der Berg, den es auf so vielen armenischen Fahnen gab, zu hoch auch, als dass ihm jemand ein Halfter hätte anlegen können, verweigerte sich dieser Demütigung durch die Geschichte.
    Mittlerweile war die Armenische Legion ins Zentrum der Operationen gerückt. Nachdem sie eine Weile den Teil der deutschen Truppen, die zum Sturm auf Stalingrad abgezogen worden waren, in der Verwaltung der besetzten Gebiete vertreten hatte, befand General Dro, dass sie nun ihre Bestimmung, die Bolschewiken aus Armenien zu vertreiben, erfüllen müsse. Weil die Front nur unter größten Mühen vorankam, hielt es der General für angebracht, die Armenische Legion vorauszuschicken, und der einzige Weg bestand darin, hinter der Front mit Fallschirmen abzuspringen.
    Diese Idee, bestechend in ihrer Verwegenheit, erwies sich als verheerend. In Simferopol trennte sich Misak Torlakian traurig und hoffnungsvoll von seinen Freunden, mit denen er in den Bergen Anatoliens, an den Fronten des Ersten Weltkriegs und in der Armee der Republik Armenien gekämpft oder in Ploiești gemeinsamen Träumen nachgehangen, ja sogar, wie im Fall von Simon Pilibossian, sich Seite an Seite unter den Schutz und den Ansporn der Göttin Nemesis begeben hatte. Sie verbrachten die ganze Nacht mit Erzählen. Dann umarmte Misak, der es zunehmend schwerer ertragen hatte, wegen seines Alters nicht als Freiwilliger in der Legion kämpfen zu dürfen, Simon Pilibossian und die anderen, blieb neben dem Feldtelegrafen sitzen und wartete auf Nachrichten.
    Es war, wie schon gesagt, eine Katastrophe. Bei so vielen sowjetischen Soldaten in ihren Reihen, die aus Todesangst über Nacht zu Soldaten der Wehrmacht geworden waren, ist es gut möglich, dass sie verraten wurden. Vielleicht waren auch die Orte nicht richtig ausgewählt oder die Nächte nicht dunkel genug. Oder aber das Schicksal hatte schlicht und einfach, gelangweilt von den vielen zur Kriegszeit ausgeworfenen Würfeln, beschlossen, einen absolut chancenlosen Versuch von allem Anfang an zu entscheiden.
    Es

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