Buch des Flüsterns
anhaltend, um sich zur Wehr zu setzen, zwischen Schrapnelleinschlägen, welche die Konvois durcheinanderwirbelten, zog er die Ukraine hinauf bis nach Czernowitz. Keinen Augenblick lang hat er sich vor dem Frontverlauf gehütet, auch ist er keinen Schritt schneller gegangen, als sich dieser bewegte, als hätte er sich vom Berg Ararat nicht anders denn unter Schubsern fortbewegen können. Er lauerte auf den Augenblick, da sich die Dinge ändern würden, dann wollte er sich wieder, wie vor dreißig Jahren bei der Belagerung von Trapezunt, in die Vorhut der Truppe einreihen. Aber die Dinge änderten sich nicht, und die russische Offensive zerstörte jede Illusion. An einem trüben Frühlingstag des Jahres 1944 ordnete Dro ihnen an, den kürzesten Weg zurück nach Berlin einzuschlagen, wobei er ihnen empfahl, sich nur noch darum zu kümmern, ihre eigene Haut zu retten.
Misak Torlakian kehrte auf dem gleichen durchwühlten Weg voller sich drängelnder Menschen, unter einem tief hängenden Regenhimmel, den die Kanonenschüsse noch verengten, und allseits von der gleichen Sinnlosigkeit des Todes erfasst, zurück. Der Sinn verpflichtet zur Beschränkung. Aber weil von allem, was es in der Welt gibt, der andere zu Kriegszeiten zum nutzlosesten Ding wird, starben die Menschen in unzählbaren Mengen. Auf diese Weise erwies sich das zwanzigste Jahrhundert hinsichtlich seiner Rechnungen mit dem Tod unter allen christlichen Jahrhunderten als das verschwenderischste.
Der Bahnhof von Focșani lag nicht auf dem kürzesten Weg nach Berlin, und Misak Torlakian schien sich nicht aufgrund eines Befehls dort aufzuhalten. Er war gekommen, um sich zu verabschieden. In Begleitung von Großvater Garabet schritt er über die Bahnhofsstraße, auf der die Kastanien noch keine Blätter getrieben hatten, und trat in den Hof der armenischen Kirche. Du bleibst hier, sagte Großvater Garabet. Wir werden etwas für dich finden, damit du was zum Leben hast ... Hier ist kein Platz mehr für mich. Bald werden die Russen über euch kommen. Und wenn sie dich dann fragen, wirst du sagen müssen, dass du mich nicht kennst. In Simferopol und in Rostow am Don haben sie in den Häusern, in denen ich gelebt hatte, alle erschossen. Und schließlich musst du keine Betätigung für mich finden, ich weiß, was ich zu tun habe. Wenn ich es mir so recht überlege, habe ich niemals etwas anderes tun können als dies ... Du hast getan, was zu tun war, sagte Großvater Garabet. Alles zu seiner Zeit. Sie hätten dir dafür beinahe den Strick um den Hals gelegt. Du selbst hast gesagt, es kämen andere Zeiten. Wie dem auch sei, Misak, es wird wieder Frieden geben. Wer bestimmt in unserem Namen, ob Frieden sein soll oder Krieg?, empörte sich Misak Torlakian. Wer fragt uns, ob wir Frieden wollen und welches unsere Bedingungen sind? Die Welt will Frieden, sagte Großvater in dem gedämpften Tonfall, in dem er seine Urteile zu verkünden pflegte. Manchmal beeilen sich die Leute zu sehr, und aus dieser Eile entstehen Kriege. Und aufgrund der gleichen Eile ermüden sie, und aus ihrem Keuchen wird der Frieden geboren. Der Krieg ist ein Keuchen. Der Frieden ist ein Keuchen. Wo liegt der Unterschied? Der Rhythmus, Misak. Die Differenz liegt im Rhythmus. Du hast gekämpft, hast gemordet, hast deine Pflicht erfüllt. Nun ist es an der Zeit, dass du dich beruhigst. Das stimmt nicht, sagte der andere. Halte dich nicht an Armen Garo, der vor uns geweint hat. Er ist alt geworden. Oder an Hovhannes Kaciaznuni. Auch er ist alt geworden. Simon Pilibossian ist tot, also wird er niemals alt werden. Er hat die große Liste bewahrt, aus der Armen Garo und Șahan Natali die sieben, acht Namen für die Operation »Nemesis« ausgewählt hat. Simon hat mir die Liste überlassen, als er zu seiner Mission aufbrach. Er hat sich eine Kugel in den Kopf geschossen, also hat er mir diese Liste zum Vermächtnis gemacht. Darauf stehen einundvierzig Namen. Verstehst du? Siebzehn von den dort auf der Liste Eingetragenen sind mittlerweile aufgrund ihres Alters gestorben, sechs sind durch Kugeln oder am Strang gestorben, je nachdem, was sie verdient hatten. Achtzehn sind übrig geblieben. Wer schließt in diesem unserem Krieg Frieden? Derjenige, der vergibt, sagte Großvater Garabet. Er rauchte selten, aber er nahm die Zigarette von Misak Torlakian an, der Augenblick nahte, und sie fanden, sie sei das Einzige, was sie teilen konnten. Aber wir können noch etwas teilen, sagte Misak Torlakian. Diese Geschichte.
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