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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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aussah, so unrasiert und mit hängenden Schultern nach so vielen Jahren Gefängnis? Da frag ich: Was hast du bloß an dem gefunden, Mädchen? Und sie sagt: Er versteht es, zuzuhören ... Also, was willst du damit sagen, dass er zuzuhören versteht? Wir können alle zuhören, die wir Ohren haben zum Hören. Ja, sagt sie, er aber versteht es, schön zuzuhören, und er langweilt sich nie. Wenn man ihnen von weitem zuschaute, wie ich es einmal getan habe, dann war es auch so.
    Virginica und der Soldat traten gemeinsam aus der Tür der Garnison, mit den kleinen Schritten von Leuten, die sich ihres Gangs erfreuen, und ein paar Meter hinter ihnen der Wachsoldat. Sie wandten sich dem öffentlichen Park zu, mit dem großen Reisigbesen fegte er ein, zwei Stunden die Blätter von den Alleen, dann setzten sie sich auf eine Bank. Ans andere Ende der Bank setzte sich der Wachsoldat, der zur Belohnung ein Essenspaket und manchmal auch ein rundes Bündel Zigaretten erhielt. Virginica öffnete dem Mann das Paket, im Sommer schnitt sie ihm die Tomaten und Paprika und im Winter die sauren Gurken, sie strich ihm buttrigen Käse aufs Brot und legte alles andere in der Reihenfolge der Speisen aus, an der Rückenlehne stand die Thermoskanne mit Tee oder warmer Milch. Dann ließ sie ihre Hände im Schoß ruhen und schaute ihn lange an. Der Mann kaute langsam, er hatte die Augen niedergeschlagen, ab und zu erhob er den Blick zu ihr hin und lächelte, wenn er ihren traf, dann versenkte er sich wieder in seine Gedanken. Er aß bedächtig, kaute jeden Bissen zu Ende, um ihr eine Freude zu bereiten, denn sie wussten beide, dass der Wachposten sie für die Dauer des Essens in Ruhe ließ. Dann packte sie eilig alles wieder zusammen, denn nun folgte der Teil, der ihr die größte Freude bereitete, er wandte sich ihr zu, lächelte weich, und sie wagte es, ihre Finger auf der Bank so weit zu seinen hin zu strecken, bis sie die seinen berührten und schließlich ihre beiden Handflächen ineinander ruhten, dann erzählte sie. Er unterbrach sie nicht und fügte auch nichts hinzu. Zunächst, weil das, was Virginica aus ihrem Leben erzählte, einfach und einleuchtend war, und weil sie alles bis in die kleinsten Einzelheiten hinein beschrieb, blieb nichts unklar, und zum Zweiten, weil es über sein Häftlingsleben nichts zu erzählen gab, wohingegen er sie mit Geschichten aus seinem Leben davor, trotz ihrer neugierigen Nachfragen, zu verschonen wusste. Sie jedoch achtete mit größter Aufmerksamkeit auf alles, was um sie herum geschah, es musste doch etwas Neues geben, von dem sie ihm erzählen konnte, ein Bruchstück aus einem Traum, ein Brief aus weiter Ferne, ein Fest in der Gemeinde, ein Stückchen Stoff, aus dem sie sich einen neuen Rock nähen konnte, ein neuer Trieb am Zitronenbaum auf der Terrasse. Zwischen ihnen wuchs der Zitronenbaum, Virginica pflückte hin und wieder eine Frucht und brachte sie ihm; an solchen Tagen war sie glücklicher als jemals sonst. Ebenso wie sie die Speisen in ihrer Tasche angeordnet hatte, waren auch die Gegenstände geordnet, von denen sie ihm vom Höckchen aufs Stöckchen kommend erzählte, und wenn sie nicht ans Ende gekommen war, der Wachsoldat sich aber sichtlich zu langweilen begonnen hatte, bat sie: Sei so gut, Mann, und lass uns noch ein bisschen, und ließ sich anschließend nicht mehr erweichen, ihre Geschichten eher zu beenden, als bis der Mittag vorbei war, doch wenn er bis zum Beginn des Abends weggeblieben wäre, hätte der Mann drei Tage Arrest bekommen, was für Virginica ebenso viele Tage des vergeblichen Wartens vor der Garnison bedeutet hätte. Wenn die Tore der Garnison für diesen in der Fremde vergessenen Kriegsgefangenen verriegelt blieben, kehrte Virginica betrübt nachhause zurück, öffnete die Pakete und aß tränenden Auges aus jedem ein bisschen, dabei stellte sie sich vor, wie sich die Mahlzeit auf der Parkbank gestaltet hätte, und erzählte ihm in Gedanken die eine Nacht zuvor sorgsam zusammengetragenen Geschichten. Dann verbrachte sie den nunmehr nutzlos gewordenen Rest des Vormittags vor dem Lampenschirm und repassierte die ihr von ihrer Schwägerin Arusiag anvertrauten Strümpfe. Diese unterhielt eine Repassierwerkstatt und war in dieser Zeit sehr gefragt, da Seidenstrümpfe nur sehr schwer zu beschaffen waren, und die Damen sich gezwungen sahen, ihre Strümpfe, wie es eben ging, stopfen zu lassen. Nachmittags, nur nachmittags, hatte sie gebeten, denn die Vormittage mussten frei

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