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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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ginge und die Tür hinter mir zumachte, kann man sie verlassen? Und immerzu und immer wieder weggehn, so weit die Füße tragen, mir reicht es, und seht ihr nicht, dass überall, wo wir hingehen, die Sipahi sind, die Kurden oder die Beduinen, dass die Bolschewiken dort sind, dass uns immer wieder wer einholt? Und was sag ich dann? Tun wir das, was sie sagen, wenn sie es so wollen?
    Und ungefähr was wollen sie?, fragte Sahag, der selbst auch so seine Vermutungen hatte.
    Nun, rechnen wir mal, ja?, ereiferte sich Anton Merzian und rundete fein und rhetorisch die Enden seiner Sätze. Was hast du für einen Lohn, Dic, als Uhrenverkäufer, du, der du früher der größte Uhrmacher an der Hauptstraße warst? Und weil Dic Bedrosian schwieg und sich verlegen das nackte Handgelenk rieb, fuhr wiederum Anton Merzian fort: Du hast dreihundert im Monat, sagst vergelt’s Gott, wenn du so viel hast? Und du, Ștefănucă, großer Anwalt, der du bist? Ștefănucă Ibrăileanu, mit struppigen Haaren und schattigen Augen, ganz sein Onkel Garabet, weniger vielleicht der Bart und die Hypochondrien, hätte ohnehin nicht sogleich antworten können, denn er hätte zuerst die halb verloschene Zigarette, die er zwischen den Lippen stecken hatte, weglegen müssen. Soll ich dir sagen, dass du auch etwa so viel hast? Und was machst du mit dem Geld, damit kannst du gerade einmal deine Brotkarte bezahlen und noch ein bisschen was drumherum, damit du nicht sagen musst, du hast nur trockenes Brot zu essen wie die Anachoreten, denn Kleider haben wir Gott sei Dank noch aus der Zeit vor dem Krieg. Und freut euch nicht, dass ein neuer Krieg kommt, und wir die so leicht loswerden, wie diese die anderen losgeworden sind, und dann kauft ihr euch andere Kleider, denn ihr wisst doch wohl? Der Krieg kommt über uns, wenn es uns besser geht, nicht wenn wir so arm sind wie jetzt, wie heißt es so treffend, beim armen Mann schießen nicht einmal die Kanonen, und wenn wir nicht mehr so arm sein werden, wie wir es jetzt sind, werden wir eben noch ärmer sein, schaut euch um, wenn es noch lange so geht, werden wir so weit kommen, dass wir das Brot und die Fische unseres Herrn Jesus Christus unter uns aufteilen, nicht wahr, Pfarrer? Und der Pfarrer, der in der Ecke saß und die Hände unter den weiten Ärmeln seiner Soutane wie in einem Muff gefaltet hatte, vielleicht war es der alte Dagead Aslanian, oder es trug sich nach seinem Tod zu, kurz nach Kriegsende, sodass er nicht mehr aus voller Kenntnis der Lage beipflichten konnte, oder es war Der Mampre Berberian, welcher dermaßen entschlossen beipflichtete, dass er, als zu Beginn der sechziger Jahre die Emigration der Armenier aus Rumänien begann, einer der Ersten war, der seine Akten einreichte, oder es war der alte Der Varjabedian mit seinem runden Bärtchen und den dünnen roten Äderchen auf den Wangen, durch die von einem Sonntag zum anderen die Reste des Messweins flossen, oder es war der junge Archimandrit Zareh Baronian, schön wie eine byzantinische Ikone, der Pfarrer, welcher auch immer es gewesen sein mochte, pflichtete bei, denn er hielt die Erwähnung des Erlösers selbst unter solch traurigen Umständen für eine positive Sache. Wir aber, die wir uns fürchten, was tun wir?, fuhr Anton Merzian ermutigt fort. Wir tun, was der Staat wünscht, was sonst? Wenn der Staat uns nicht genug gibt für ein anständiges Leben, so müssen wir trotzdem leben, denn von Menschen ohne Staat hat man schon gehört, schaut, wir, die wir Staatenlose sind, aber wer hat je von einem Staat ohne Menschen gehört? Und dann, wenn sie uns nicht einmal so viel arbeiten lassen, wie wir möchten, was können wir dann zum Leben sonst tun, als so von der Seite her uns was zu nehmen, na ja, also, wie man so sagt, zu stehlen? Seht ihr nicht, dass der Staat will, dass wir stehlen, damit er sich nicht um uns kümmern muss, und dass er sich entlastet fühlt, wenn er sieht, wie gut wir seine Hinweise verstehen? Sodass, was dieser da mit dem länglichen Kopf nicht versteht – es war nicht schwer zu begreifen, dass Krikor Minasian gemeint war –, wir mit unseren normalen Köpfen über den Schultern sehr wohl verstehen, und wenn das alle verstünden, wäre es auch nicht gut, denn dann bliebe uns nichts mehr zum Stehlen, also stehlen eben wir, die Gescheiteren, meint ihr nicht auch?
    Aber du musst schnelle Augen haben und flinke Hände, und das können wir nicht mehr, sondern nur noch unsere Kinder, also habe ich zu meinen Kindern gesagt:

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