Buch des Flüsterns
Häftlingen, einer russischen Militäreskorte übergeben werden. In der Sowjetunion wird er bei endlosen Verhören für das Vergehen, in Kriegsgefangenschaft geraten zu sein, zur Rechenschaft gezogen werden und ein Geständnis ablegen müssen über alle strategischen Geheimnisse des sowjetischen Staates, die er während der Gefangenschaft an die Feinde des Volkes verraten hat, nämlich an die deutsche Armee und an die rumänische Armee aus der Zeit, als der König deren oberster Befehlshaber war. Was wird jetzt geschehen?, fragte Virginica außer sich und klammerte sich zum ersten Mal an seinen Arm, dabei nahm sie nicht einmal wahr, dass er den Ärmel fest an seinen Körper presste und verlegen ein bisschen zur Seite wich. Was wird jetzt geschehen?, wiederholte Vrej Papazian ihre Frage, und wollte damit vor ihr rechtfertigen, warum er gerade jetzt und unter diesen Umständen Virginicas Geschichte erzählte. Misak Torlakian hatte recht, Bahnhöfe sind die passenden Orte für die Trennungen von Liebenden. Unter der großen Garnier-Uhr im Durcheinander des Bahnsteigs, das vom wallenden Rauch der Lokomotiven noch verstärkt wurde, wagte Virginica zum ersten Mal, sich an seine Brust zu schmiegen und ihm die Arme um den Nacken zu legen. Den Koffer in der Hand, stand er einige Augenblicke verdutzt und steif da, dann legte er die Hand auf den Kopf der Frau und zog ihn langsam zu sich heran. Während des Krieges waren dies die üblichen Szenen gewesen, nun, da der Krieg schon seit mehr als drei Jahren vorbei war, waren sie unüblich geworden, aber sieh an, auch jetzt noch wurden aus irgendwelchen Winkeln Wesen eingesammelt, die im Durcheinander nach dem Beginn des Friedens vergessen worden waren. Er streichelte ihr über das Haar, war verwirrt und verlegen, wusste nach all diesen Jahren nicht mehr, was er zu tun habe, wenn sich eine Frau in seinen Armen befand. Komm zurück und suche nach mir ..., flüsterte sie. Wenn sie mich gehen lassen, werde ich kommen, sagte er. Versprichst du’s?, insistierte sie, nicht etwa, weil sie ihm nicht glauben mochte, sie wollte ihn nur noch einmal diese Worte aussprechen hören. Er bückte sich, öffnete seinen Koffer und steckte ihre Tasche mit dem Essen hinein, sie wies ihn darauf hin, den Tee nicht zu vergießen, und er nahm die Mandoline heraus, die er sich im Gefängnis gebaut hatte. Bewahr du sie bis dahin auf ..., sagte er und hielt ihr das Instrument hin, das, von ihren schmalen Fingern über die Saiten weg berührt, einen unpassenden Akkord lange nachklingender Töne von sich gab. Der Wachsoldat hatte sie nicht aus den Augen gelassen, er reichte die Papiere einem sowjetischen Offizier, der sie sich von allen Seiten ansah und Soldaten herbeibeorderte, die in unmittelbarer Nähe gewartet hatten, sie kamen, packten den Mann an den Armen und gaben ihm auf Russisch einen kurzen Befehl. So blieb Virginica auf dem Bahnsteig zurück und sah bangen Herzens, wie ihr Geliebter brutal zur Waggontreppe geschubst wurde und dabei kaum noch Zeit fand, einen Blick zur Seite zu tun. Lange stand sie reglos da, hielt die Mandoline in den Armen und wartete vergeblich darauf, dass er sich am Waggonfenster zeige und ihr ein Zeichen gebe. Mit tränenüberströmten Wangen näherte sie sich der Bahnsteigkante und erschrak erst, als sich auf diesem Gleis ein weiterer Zug kreischend näherte. Einen Augenblick lang fasziniert von den Traversen der Eisenbahn, fühlte sie sich von ihren erlösenden Schwellen angezogen. Aber Virginica widerstand schließlich dieser Verlockung; dass sie sich nicht umbrachte, indem sie sich vor die Räder des Zuges warf, hilft dieser Geschichte, nicht in den Schatten anderer berühmter Geschichten zu treten. Also rettete Virginica ihre Geschichte vor vorhersehbaren Situationen, sie rettete auch die Mandoline, die jetzt, nachdem sie bis zu ihrem Tod wie ein Heiligtum bewahrt worden war, im Armenischen Museum des Kulturhauses von Bukarest mit der Erklärung ausgestellt wird, ein armenischer Soldat der Roten Armee habe sie während seiner Gefangenschaft in Rumänien gebaut. Auf diese Weise ist Virginicas Geschichte, die beinahe aus den Seiten des
Buchs des Flüsterns
ausgebrochen wäre, doch noch zurückgekehrt, aber die Kraft, mit der sie selbst der Versuchung zum Selbstmord widerstanden hatte, konnte sie nicht vor den Leiden bewahren, die noch folgen sollten.
Wir hatten geglaubt, es wäre vorbei, sagte Vrej Papazian, alle glaubten wir, es sei vorbei, auch wenn wir sie nachts vor dem
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