Buch des Flüsterns
jedenfalls hatte sie kein irdisches Leiden. Sie war abgemagert, die Augen waren ihr tief in den Schädel eingesunken, und dann war sie plötzlich von dieser Welt gegangen. Niemand konnte sich an ihre Beerdigung erinnern, wenn diese überhaupt stattgefunden hatte. Der Schuster bewahrte ihr Foto auf einem Wandbrettchen in seiner Werkstatt auf, zwischen Kleistertöpfen und Leisten. Das Foto war matt geworden, und die Gesichtszüge waren kaum mehr zu erkennen. Wie sie sich aus dem Leben zurückgezogen hatte, war sie allmählich auch vom Silberabzug verschwunden. Großmutter Arșaluis hatte die Todesursache erfahren: Ihr Schlaf hatte sich im Spiegel gespiegelt. Das Bett des Mädchens hatte vor dem Spiegel gestanden. Die Menschen können sich so oft sie mögen im Spiegel anschauen, nicht aber die Träume. Diese verbleiben, wenn sie sich einmal gespiegelt haben, darin zurück. Statt am frühen Morgen zu verfliegen, versammeln sie sich auf der Stirn wie Rauhreif, wie kalter Angstschweiß. Dies war übrigens das einzige Krankheitszeichen des Mädchens. Die Träume versammelten sich kalt auf ihrer Stirn. Doktor Zilbermann, nach dem Krieg zu Argintaru geworden, wollte das ums Verrecken nicht glauben. Aber auch er musste anerkennen, wie ungewöhnlich es war, dass sich eine kalte Stirn ohne jedes Fieber derart mit kaltem Schweiß überzog. Die Tochter des Schusters Ionescu starb, weil sie nicht aus den eigenen Träumen heraustreten konnte. Immer tiefer in die Träume ihrer Träume versunken, hatte sie sich langsam aufgelöst.
Großvater Garabet hingegen faszinierte das kurze Gedächtnis der Spiegel. Überhaupt keine Spur, sagte er und streichelte die glänzende Fläche. Keinerlei Zucken, kein Echo. Im Spiegel betrachtet, ist die Geschichte gleich null.
Dann schlug Großvater mir vor, die Spiegel zu überwinden. Gemeinsam nahmen wir den Kampf gegen sie auf. Die grausamste Waffe gegen Spiegel ist das Gedächtnis, beschloss Großvater. Geben wir also den Spiegeln ein Gedächtnis.
Der große Spiegel erwies sich als ein Gegner, der zu fürchten war. Nur mittels einer List konnten wir ihn überwinden. Wir begannen damit, dass wir den Verrat der Spiegel benutzten. Ein anderer, vor den großen Spiegel gestellter Spiegel vervielfältigte die Bilder endlos. Dadurch erreichten wir jedoch nichts. Der Augenblick des Spiegels stellte sich bildlich als endlos heraus, dabei hinterließ er jedoch keine Spuren. Der Augenblick hatte Tiefe, aber keine Dauer.
Wir mussten etwas anderes suchen. Großvater stellte das Stativ vor den Spiegel. Wenn er es denn partout nicht will, werden wir ihm das Gedächtnis mit Gewalt in den Rachen stecken. Das Fotografieren des Spiegels schien die einfachste Sache der Welt zu sein. Man musste ihm nicht auflauern, er stand ohnehin unbeweglich da. Wie aber musste man es anstellen, um das Gedächtnis dazu zu bringen, näher zu treten, ohne die List zu durchschauen? Der Fotograf und sein Apparat mussten das Bild überraschen, ohne selber hineinzugeraten. Der Spiegel erwies sich als überaus habgierig. Er warf schlicht und einfach ein ganzes Lichtnetz über uns und erwischte uns jedes Mal. Jede Verrenkung war zwecklos. Es war wie eine verkehrte Art des Fischens, als würde das Netz etwa vom Wasser aus aufs Land geworfen werden. Wir beschlossen, von der Seite her zu fotografieren, damit er uns nicht sieht. Dann aber verwandelte sich der Spiegel in eine Messerklinge. Auf der es keine Bilder, sondern nur noch den Glanz gab. Und ohne Bilder zerrann uns das Gedächtnis zwischen den Fingern.
Wie fotografiert man einen Spiegel, ohne dass man sich selbst darin sieht? Wie kann man die Welt verstehen, wenn man sich außerhalb ihrer plaziert?
Diese Angelegenheit ist letztlich trigonometrischer Natur. Die Stellung in oder außerhalb der Welt wird durch Sinus- oder Kosinus-Funktionen ausgedrückt. Großvater begann zu rechnen. Als günstigster Winkel erwies sich einer von 23 Grad. Wir befinden uns zu hoch oben, schätzte Großvater. Wir müssten von den Tropen her auf den innersten Kern der Erde schauen. Es ist die beste Stelle, um von außerhalb der Welt darauf zu schauen. Je weiter man auf den Nordpol zugeht, umso schneller verschlingt einen das Leben. Unser Zimmer mit der Pendeluhr, dem großen Spiegel, dem Schrank mit den rätselhaften Büchern, mit den Fotografenutensilien und Farbtöpfen kam mir so weitläufig vor wie die Welt. Wir mussten also annehmen, der große und habgierige Spiegel sei der Erdkern, damit auch unser
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