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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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die Art ihrer Geburt, sondern durch die Art und Weise ihres Sterbens. Der Erste war Lenin, umgeben von roten Fahnen. Lenin war der Verkündigungsengel von Herrn Hrant aus Constanța, der uns schrieb, er sei aus dem Lager entlassen worden, aber weil er weder die nötigen Papiere noch die Kraft habe, den Rückweg von der Halbinsel Taimâr anzutreten, habe er beschlossen, die ihm verbleibenden Tage in der Sowjetunion zuzubringen. Dann Simon Bolivar, der den erschöpften Leib der Schwester von Großvater Garabet bewachte. Sie war in Buenos Aires begraben worden, unweit des zu Ehren von Ohanes Țețian errichteten Denkmals, des Generals von Kussuth, der nach der Niederlage von 1849 aus Siebenbürgen nach Argentinien gelangt war, wo er die Militärakademie begründet hatte. Die Ordnung unter den in unserer Familie Gestorbenen war leicht zu wahren. Aber die der Lebenden? Mit der Unerbittlichkeit und Einfalt des Kindes verfügte ich über ihr Geschick. Dies also ist ihr Foto nach einem Jahrhundert des Herumziehens, zwei Weltkriegen und so viel Exodus. Sie wandern aus dem Buch der zufälligen Geschichte hinüber auf die festen Seiten des Briefmarkenalbums, die nun den sepiafarbenen Platten der Daguerreotypie gleichen. Zeichen meines Geschlechts, dem die Erde immer schon rund war und ohne Ende. Das seltsame Gesichter aufsetzte, je nach Maßgabe der Westrecken, die es sich wie dicke Isfahan-Teppiche unter die Sohlen genommen hatte.
    In der Mitte thronte stets George Washington mit seinem runden Gesicht und der gekringelten Perücke, selbstgefällig stützte er sich auf den Säbelgriff. Daneben, rechts und links von ihm, Napoleon Bonaparte und Gamal Abdel Nasser. Diese traten einen Schritt zurück und baten Königin Elisabeth II. nach vorne, die, von so vielen heldenhaften Geistern stimuliert, die Krone abnahm und sich die phrygische Mütze über die Ohren zog, die neue Gefährtin meines in Paris lebenden Onkels Bergi Hovnanian. Im Hintergrund konnte man die dicken Zedernäste erkennen, in denen die absteigenden Jahrhunderte wie Blätter raschelten. Noch weiter am Rand, mit schrägstehenden und misstrauischen Augen, Lenin und Dimitroff. Lächelt!, sage ich zu ihnen. Sie unterwerfen sich der Anordnung des Kindes und fuchteln ernsthaft und linkisch herum, denn von all den Dingen, in denen die Geschichte sie unterweisen könnte, ist das Lächelnlernen am schwersten.
    Was verbindet all diese Königinnen, Kaiser und Generäle, die hoch zu Ross oder mit den Sporen an ihren Stiefeln frisch eroberte, mithin blutende Landstriche betreten? Wie vermögen sie, das Gruppenfoto meiner Familie abzugeben? Was ist all diesen gepuderten, gekrönten grausamen oder selbstzufriedenen Gesichtern auf den Briefmarken gemeinsam? Welches Zeichen hat wohl der Fotograf, der vor langer Zeit, nur wenige Tage vor dem Massaker und der Vertreibung, meine Familie in dem Dorf Zakar in Anatolien fotografierte, verwundert retouchiert? Dieses Zeichen ist der Stempel. Wie das himmelwärts gewandte Hufeisen eines toten Pferdes. Jedes Gesicht trägt einen Stempel. Vollständig und rund oder bloß auf einer Briefmarkenecke, wie ein Stück aus einem Wagenrad. Das über steinige Straßen holpert, im Sand versinkt, von Reif überzogen ist oder schwarz vor Morast. Stempel, die dem Feuerkreis gleichen, der angehaltene Augenblick, durch den die Leiber springen, der Reihe nach, sich strecken und springen.
    Ihr lächelt. Meine Vorfahren, die Onkel und Tanten ziehen sich zurück hinter die Vorhänge, hinter die Faltenwürfe der Salonkleider und die schweißgegerbten Sättel. Sie quälen sich ein Lächeln ab, damit sie, Kaiser, Könige und Königinnen, Generäle und Monsignores, wild durcheinander in mein Album passen. Was aber zwischen all den Faltenwürfen königlicher Schleppen, zwischen den Uniformen und Salonröcken, dem Glanz der Säbel und der Dunkelheit in der Mündung der Kanonenrohre an mein armenisches Volk gemahnt, sind lediglich ein paar Stempel.
    Dies ist das neue Foto meiner Familie. Eine gestempelte Geschichte.
    Spiegel mochte ich nicht. Sie spürten das und bestraften mich. Ein riesiges Wesen betrachtete mich und öffnete ab und zu schlaftrunken ein Auge. Ein gieriges Wesen, das sich der Spiegel oder anderer spiegelnder Gegenstände bediente, um mir die Seele zu rauben.
    All diese Dinge habe ich von Großmutter Arșaluis erfahren. Die Tochter des Schusters Ionescu, der seine Werkstatt an unserer Straßenecke hatte, ist jung gestorben. Sie war nicht krank gewesen,

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